E. A. Rees (Hrsg.) The Nature of Stalin’s Dictatorship. The Politburo, 1924–1953. Palgrave Macmillan Houndmill Basing­stoke 2004. XV, 267 S. = Studies in Russian and East European History and Society.

Dieser Band ist unübersehbar der Politischen Geschichte des Stalinismus gewidmet. Nach der Einführung durch den Herausgeber Arfon Rees folgen sieben Beiträge, die unter verschiedenen Aspekten den Entscheidungsprozess in der sowjetischen Politik während der Stalin-Zeit zu ergründen suchen. Durch zwei Aufsätze mit den Themen „Stalin as Leader, 1924–1937“ und „Stalin as Leader, 1937–1953“ sucht Rees den historischen Rahmen des Bandes abzustecken. Evan Mawdsley untersucht die Evolution der Politbüro-Mitgliedschaft von 1927 bis 1953; Stephen G. Wheatcroft widmet sich dagegen den informellen Entscheidungsprozessen, die außerhalb der offiziellen Führungsorgane bei den Treffen in Stalins persönlicher Kanzlei abliefen. Ein Kollektiv-Beitrag von R. W. Davies, Me­lanie Ilič und Oleg Chlevnjuk analysiert, in welche Felder der Wirtschaftspolitik Stalin intervenierte und welche er seinen Statthaltern überließ. D. Watson, der die Entwicklung der Außenpolitik untersucht, wendet sich den variierenden strategischen Optionen zu, mit denen Stalin hantierte, indem er zugleich die Rivalitäten zwischen V. Molotov und M. Litvinov ausnutzte. Das Wechselspiel zwischen formalen und informellen Beziehungen versucht V. Vasil’ev am Beispiel des Verhältnisses zwischen dem Ukrainischen und dem Unions-Politbüro darzustellen.

Es handelt sich durchwegs um Beiträge, die den neuesten Stand quellengesättigter empirischer Forschung wiedergeben. Dabei kann man allerdings die These von Arfon Rees, „we now know almost as much about the internal workings of the leadership under Stalin as we do of any major leader in a Western liberal state“ (S. 13), kaum wörtlich nehmen. Unser Wissen über die Stalinsche Diktatur ist immer noch sehr begrenzt, wie z.B. die Analyse von Davies, Chlevnjuk und Ilič nahelegt, die anhand der Entscheidungsprozesse über zentrale wirtschaftspolitische Fragen zwischen 1932 und 1936 zu durchaus widersprüchlichen Ergebnissen gelangen. Im einen Fall, mit der Hinwendung zu den „Neo-NĖP“-Reformen, reagierte Stalin auf Berichte über soziale Unruhen und Stimmungen im Gefolge der Hungerkatastrophen von 1932/33. In einem anderen Fall, mit der gemäßigten Industrie-Politik von 1932–1934, wirkten Fachleute aus den Ministerien, die selbst gar nicht den zentralen Entscheidungsgremien angehörten, auf die Entscheidung ein. Wieder ein anderes Mal, als es um die Abschaffung der Brot-Rationierung von 1934/35 ging, reagierte Stalin auf Memo­randen, die von den Volkskommissariaten für Finanzen und für Handel vorgelegt wurden. Schließlich konnte die eminent wichtige Entscheidung für die Initiierung der Stachanov-Bewegung 1935 ganz ohne Stalin gefällt werden, der sich erst nachträglich an deren Spitze stellte. Während in allen Fällen die Entscheidung bzw. zumindest deren Sanktionierung allein Stalin vorbehalten war, bieten die diversen Prozesse, die dazu führten, durchaus verschiedene Muster. Die Autoren dieses Beitrags vermeiden eine Generalisierung.

Der Titel des Bandes richtet den Blick auf das „Wesen der Stalinschen Diktatur“. Wie Arfon Rees erklärt, hat man sich gar nicht erst um eine gemeinsame Antwort auf diese Frage bemüht. Auch die Autoren der Einzelbeiträge bleiben in dieser Hinsicht vorsichtig. Die erwähnten Davies, Ilič und Chlevnjuk erklären zu ihrer Skepsis gegenüber Generalisierungen: „The state of sources makes it extremely difficult to reconstruct the logic of Stalin’s action.“ (S. 122) Werden wir das „Wesen der Stalinschen Diktatur“ umso eher fassen können, je mehr Archiv-Dokumente wir zur Verfügung haben? Wohl kaum. Der Band ist mit der stolzen Zahl von zweiunddreißig statistischen Tabellen gespickt – in diesem Ausmaß ungewöhnlich für ein Werk der Politischen Geschichte. Keine von ihnen erweist sich als überflüssig. Sie sind nur der Ausweis für die durch und durch solide empirische Forschungsarbeit, die in den Beiträgen präsentiert wird. Ihre Ergebnisse wird jeder zur Kenntnis nehmen müssen, der künftig Wesentliches zur Politischen Geschichte des Stalinismus sagen will.

Benno Ennker, Tübingen/St. Gallen

Zitierweise: Benno Ennker über: E. A. Rees (Hrsg.): The Nature of Stalin’s Dictatorship. The Politburo, 1924–1953. Palgrave Macmillan Houndmill Basingstoke 2004 = Studies in Russian and East European History and Society. ISBN: 1-403-90401-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 613-614: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ennker_Rees_Nature_of_Dictatorship.html (Datum des Seitenbesuchs)