Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 685-687

Verfasst von: Benno Ennker

 

Sarah Davies / James Harris: Stalins World. Dictating the Soviet Order. New Haven, London: Yale University Press, 2014. XV, 340 S. ISBN: 978-0-300-18281-1.

Sarah Davies und James Harris, haben mit Stalin’s World ein Werk vorgelegt, dessen Titel große Erwartungen wecken muss. Wie sah die Welt aus, in deren Koordinaten sich Entscheidungsbedingungen der Stalinschen Politik verorten lassen? Man könnte eine Forschung über Weltkonstruktion und -wahrnehmung oder eine Analyse über den symbolischen Charakter der sowjetischen und internationalen Wirklichkeit in Stalinschen Entscheidungsgrundlagen oder in veröffentlichten, in redigierten unveröffentlichten Schriften erwarten. Die Autoren sind aber weit entfernt von solcher methodischer Strukturierung des empirischen Materials.

Sie nahmen sich vor, den Informationsfluss und die Informationsverarbeitung zu betrachten, aus denen sich Stalin seine Welt zusammenfügte, und die Folgerungen in der von ihm geprägten Politik abzuwägen und zu vergleichen.

Die in diesem Buch betrachteten Themen umfassen die Zeit von 1924 bis 1939, die erste – immerhin die grundlegende und prägende – Hälfte der Stalin-Herrschaft. In ihren Ausführungen haben Davies und Harris diese Themen in solche der „Information und Interpretation“ im ersten Teil („bolschewistische“ Führung, Spionomanie, kapitalistische Einkreisung) und solche der „Macht der Stalinschen Worte“ (Führerkult, Arbeiterklasse, Sowjetkultur) im zweiten Teil untergliedert. Es ist die Aufteilung in Wahrnehmung bzw. Informationsverarbeitung einerseits und Umsetzung in praktische Politik andererseits. Man kann bezweifeln, ob dieses Schema der Denkweise Rechnung trägt, die Lenin und Stalin beständig ihren Gefolgsleuten predigten, nämlich dass die Theorie nicht von der Praxis zu trennen sei, das Pragma der Politik also immer schon in die Analyse eingepflanzt sein müsse. Unter den bearbeiteten Themen wird man solche vermissen, die für die Entwicklung der Stalinschen Herrschaft von entscheidender Bedeutung waren, wie vor allem die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft oder den „Großen Terror“. Mit diesen Lücken erhält die Themenauswahl des Buches etwas Zufälliges.

Es erweist sich als großer Mangel, dass die Autoren sich zum größten Teil auf eine Exegese des in den Archiv-Dokumenten aufgefundenen Materials beschränken, ohne eine quellenkritische Methode des historischen Umgangs mit der Fülle dieser Aussagen und Niederschriften Stalins zu bieten. Die Analyse bleibt so auf der Strecke. Ja, ihnen schien selbst die bloße Einarbeitung in den Forschungsstand der behandelten Themen nicht der Mühe wert zu sein. Zwei Beiträge werfen ein exemplarisches Schlaglicht auf diese Mängel.

Der Artikel Capitalist Encirclement behandelt das Stalinsche Bild von der drohenden Invasion durch kapitalistische Staaten. Seit Jahrzehnten haben sich Spezialisten mit dem Thema befasst (B. Pietrow 1983, J. Haslam 1984, G. Roberts 1989, G. Gorodetsky 1999), ohne dass jetzt diese Forschungsliteratur berücksichtigt würde. Lag nun die feste Verankerung dieses Weltbildes im Denken des „Führers“ an der eindimensionalen Information Stalins, dem niemand gewagt habe, gegenteilige Fakten vorzulegen, wie erklärt wird? (S. 94) Die Behauptung kann sich vielleicht auf Geheimdienst-Berichte berufen, die in Stalins Archiv vorzufinden sind. Sie hat aber keinen Bestand vor den vielfältigen Analysen gegenteiligen Inhalts aus dem Außen-Kommissariat sowohl unter Georgij V. Čičerin als auch unter Maksim M. Litvinov. Letzterer hatte noch im April 1939, unmittelbar vor Stalins fatalem Kursschwenk zum Pakt mit Hitler, ein Memorandum vorgelegt, das die Möglichkeit einer Kooperation mit den Westmächten positiv begründete. Harris glaubt, ohne Belege anzuführen, Stalin sei nichts anderes als die Kumpanei mit Nazi-Deutschland übrig geblieben (S. 129), womit er die weit überwiegende gegenteilige Forschungsmeinung ignoriert. Er bleibt in den Suggestionen verfangen, die er aus den Dokumenten des Stalin-Archivs gewinnt.

Der Beitrag The Leader Cult hat vor allem die Einwände, Abschwächungen und Warnungen Stalins in Hinblick auf den um ihn entfalteten Kult zum Gegenstand. Auch hier zeigen sich die großen Nachteile einer Darstellung allein aus den ausgewählten Dokumenten des Stalin-Archivs, der in keiner Weise ein quellenkritisches Instrumentarium beigegeben wird. Der Stalin-Kult war ein Macht-Diskurs. Wie also kann aus allerhand Dokumenten-Zitaten die Einstellung Stalins rekonstruiert werden, ohne seine reale Stellung im totalitären Machtgefüge zu berücksichtigen? An keiner Stelle wird die so suggerierte „Bescheidenheit“ Stalins abgeglichen mit den in der Forschung belegten zentral gelenkten Kult-Initiativen selbst. So wird in der Folge bei den Lesern der Eindruck hinterlassen, ein „hilfloser Stalin“ habe die völlig übertriebene Verehrung über sich ergehen lassen müssen! Nicht zufällig ist dies in den dreißiger Jahren die Sicht der apologetischen Publizistik über Stalin im Westen gewesen, die z. B. einem Lion Feuchtwanger von Stalin persönlich souffliert wurde.

Jan Plamper (The Stalin Cult, 2012, S. 122 ff.) hat in diesem Zusammenhang von der „gekünstelten Bescheidenheit“ bzw. der „unbescheidenen Bescheidenheit“ Stalins gesprochen. Er konnte dies auf der Basis grundlegender Quellenkritik und unter Berufung auf Oleg Chlevnjuk, den wohl besten Kenner des „Stalin-Archivs“, plausibel machen: Darin hat er gezeigt, dass jene Dokumente aus dem unter Stalins Regie stehenden Archiv gerade zum Zwecke der Suggestion dieses Eindrucks der „Bescheidenheit“ des „Führers“ konstruiert und hinterlassen wurden. Davies erklärt sich unbeeindruckt von diesen Argumenten, da Plampers Werk hauptsächlich auf die künstlerische Seite des Stalin-Kultes gemünzt sei, wie sie fälschlich behauptet (S. 136).

Die bloße Dokumenten-Exegetik als historische Methode führt in Stalin’s World dazu, sich vor allem Stalins „Welt als Wille und Vorstellung“ – frei nach Schopenhauer – zu eigen zu machen. Einen Fortschritt in der Stalin-Forschung kann man das kaum nennen, eher eine Kapitulation von Historikern vor der Überfülle des Materials aus der viel beschworenen post-sowjetischen „Archiv-Revolution“ und eine bereitwillige Übernahme obsoleter, vorwiegend in der Sowjetunion produzierter Forschungsmeinungen.

Benno Ennker, Radolfzell

Zitierweise: Benno Ennker über: Sarah Davies / James Harris: Stalin’s World. Dictating the Soviet Order. New Haven, London: Yale University Press, 2014. XV, 340 S. ISBN: 978-0-300-18281-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ennker_Davies_Stalins_World.html (Datum des Seitenbesuchs)

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