Darius Staliūnas Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Editions Rodopi Amsterdam, New York, NY 2007. XIII, 465 S., 1 Kte., 73 Abb. = On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics, 11.

Der nach wie vor ambivalente Begriff der „Russifizierung“ beinhaltete bereits im 19. Jahr­hun­dert eine Reihe verschiedener Vorstellungen und Konzeptionen. Unter diesem Aspekt untersucht Staliūnas die Nationalitätenpolitik des russländischen Imperiums in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel seiner Nordwest-Provinz, d.h. im Prinzip auf dem Territorium der heutigen Staaten Litauen und Belarus, um mehr Licht in dieses Verwirrspiel zu bringen. Dem dient auch eine einleitende, reflektierte Übersicht über die diversen „nationalen“ Historio­gra­phien zum Thema. Den Schwerpunkt der Studie bilden die unterschiedlichen Strategien der Ver­waltungsinstanzen gegenüber den hier lebenden nichtrussischen Nationalitäten, – Polen, Litau­ern, Belarussen, Juden – wobei natürlich zu beachten ist, was zur damaligen Zeit unter der Zuge­hörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft ver­standen wurde bzw. welche Möglichkeit über­haupt bestand, einer anderen beizutreten. Quellengrundlage ist die offizielle sowie, in geringerem Umfang, die private Korrespondenz von Vertretern der zivilen Behörden, deren inhaltliche Aussagen durch die Auswertung der lo­kalen Presse, von Gesetzestexten und Resolutionen ergänzt und überprüft werden.

Ein erstes Kapitel klärt darüber auf, wie die administrativen Grenzen der Nordwest-Provinz in die Nationalitätenpolitik einbezogen wurden. Neben der territorialen Reorganisation hatte auch die von offizieller Seite in die Wege geleitete Änderung historischer geographischer Bezeichnungen das Ziel, ethnische, nationale oder separatistische Konnotationen ein für allemal auszuschließen. Bei der Konzeption und Umsetzung derartiger Maßnahmen spielte der General­gouverneur in Wilna (Vilnius, russ. Vil’na) eine entscheidende Rolle. Der antipolnische Impetus aller administrativen Aktivitäten mündete seit dem Aufstand von 1863/64 in zwei gegensätzlichen Strategien: Zum einen wurde angedacht, Wilna zum administrativen Zentrum der Russifi­zierungspolitik zu machen; zum anderen sollte die Provinz, um ein mögliches polnisches Wider­standspotential in der Region zu schwächen, aufgeteilt werden, was die enorme Bedeutung der Stadt Wilna in diesem Zusammenhang zugleich geschmälert hätte.

Das zweite Kapitel belegt die Zunahme nationalistischer Diskurse in der russländischen (und russischen) Öffentlichkeit sowie in offiziellen Verlautbarungen infolge der Aufstände von 1863/64. Die hierbei entworfenen Konzepte führ­ten jedoch nicht zu einer stringenteren Natio­nalitätenpolitik bzw. zu einer einheitlichen Strategie.

Welche Idee und Vorgeschichte hinter einer „Russifizierung“ (russ. obrusenie) im 19. Jahr­hun­dert steckte, analysiert der dritte Abschnitt. Der Begriff selbst wurde von offizieller Seite eher vermieden. Verstanden wurde darunter aber vor allem die Wiederherstellung angeblich al­ter territorialer Rechtsansprüche aus der Zeit der mittelalterlichen Kiever Rus’, die je nach Eth­nie zu einer Assimilation, Akkulturation oder Integration führen sollte.

Wie Kapitel vier aufzeigt, zielten alle nationalitätenpolitischen Vorstellungen innerhalb der Behörden auf die Isolierung der polnischen Bevölkerung ab, ohne dass zunächst intern überhaupt klar war, was man unter einem „Polen“ zu verstehen hatte. War nun die Konfession, die Sprache oder der soziale Stand (als Gutsbesitzer) das definitive Kriterium? In der Praxis, d.h. zum Beispiel bei der Umverteilung von Land, in der Besteuerungspolitik oder bei der Ersetzung von Beamten und Lehrern, wurde der Glauben zum Hauptmerkmal erhoben. Um das Definitionsproblem auf statistisch wenigstens halbwegs gesicherte Grundlagen zu stellen, wurden in (frag­würdigen) Bevölkerungserhe­bungen Ukra­i­ner und Belarussen (im Einklang mit der übrigen Politik) als „Russen“ geführt. Das Nationalbewusstsein der Litauer sollte hingegen – bei allem latenten Misstrauen – paradoxerweise gestärkt, und somit gegen alle potentiellen politischen Beeinflussungen von polnischer Seite in Stellung gebracht werden, während sich für die amtliche Kategorisierung der Juden aus verschiedenen Gründen erhebliche Probleme einstellten.

Die Ergebnisse lassen sich in Abschnitt fünf – lokal mit unterschiedlichem Erfolg – an den Übertritten vom Katholizismus zum orthodoxen Glauben ablesen. Eine solche Konversion versprach den Neubekehrten diverse Vorteile. Öffentliche Kampagnen und Druckausübung – die Schließung von katholischen Kirchen und Klöstern, die Einführung der russischen Sprache auch für den katholischen Religionsunterricht und in die Liturgie – taten ihr Übriges.

Damit jedoch nicht genug. Kapitel sechs untersucht die Bemühungen, die darauf abzielten, die polnische Sprache auch noch als Kommunikationsmittel zu eliminieren. Dazu dienten u.a. das Verbot, das Polnische in der Öffentlichkeit und im Unterricht zu gebrauchen und polnisch­sprachige Bücher zu drucken. Um den Vereinheitlichungsdruck noch weiter zu erhöhen, wurde zudem versucht, für das Polnische und Litauische die kyrillische Schreibweise durchzusetzen. Publikationen im belarussischen Idiom wur­de die lateinische (= polnische) Schrift generell verwehrt.

In seinem Fazit weist Staliūnas darauf hin, dass viele der realisierten Schritte bereits vor 1863/64 diskutiert worden waren, jedoch wurde die Nationalitätenpolitik erst nach dem polnischen Aufstand von 1863 in zunehmendem Maße von ethnischen Schablonen geprägt. Der Um­gang mit den einzelnen Bevölkerungsgruppen war abhängig von der zugeschriebenen Nationalität; besonders im Falle der Polen konnte er bis zur offenen Diskriminierung reichen. Je mehr nationale Nähe aber zum „Russentum“ unter­stellt wurde, desto weniger kulturelle Autonomie wurde gewährt, beispielsweise bei den Bela­russen, deren Sprache landläufig ohnehin lediglich als russischer Dialekt angesehen wurde. Die groß angelegten Zielstellungen – eine langfristige Assimilation anderer Nationalitäten und das Zurückdrängen des polnischen kulturellen Einflusses in der Region – misslangen jedenfalls. Bei einem realistischeren und subtileren Vorgehen wäre dem Autor zufolge durchaus ein größerer Erfolg zu erzielen gewesen.

Wie Staliūnas richtig bemerkt, gab es auf Sei­ten der Behörden keinen ausgeklügelten Rus­si­fizierungsplan für das gesamte Reich. Die „Indigenisierung“ der nichtrussischen Völker muss daher sehr viel differenzierter bewertet werden. Sie verlief nämlich durchaus mit Rücksicht auf administrative, konfessionelle und kulturelle Prägungen, und hatte im 19. Jahrhundert neben einer Modernisierung der Verwaltung vor allem die Integration in den russländischen Staat und dessen Gesellschaft zum Ziel. In der Nordwest-Provinz wurde dieses Kalkül ab 1863 allerdings auf vergleichsweise harsche Weise umgesetzt, um die polnische Oberschicht möglichst rasch und nachhaltig zu marginalisieren. Dem diente auch die Förderung der in der Region siedelnden litauischen Bevölkerungsmajorität. Diese Strategie ließ sich auch in anderen Provinzen des Im­periums, so z. B. im Baltikum, beobachten.

Die Studie ist zu einem überwiegenden Teil eine Diskursanalyse. Dabei spiegelt sie die Kompetenz- und Hierarchieauseinandersetzungen innerhalb der Behörden sowie die adminis­trativen Verhältnisse, lokal und in St. Petersburg, in vielschichtiger Weise wider. Die konzisen, abschließenden Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel akzentuieren treffend die Thesen des Verfassers, und die zahlreichen Illustrationen, vor allem Abbildungen der Protagonisten, sorgen für optische Abwechslung. Der Zeitraum der Analyse ist auf die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschränkt, und konzentriert sich auf die Untersuchung nationaler Zuschreibungen aufgrund von Sprache und Religion. Da­bei bleibt sie m. E. zu sehr auf das Regierungshandeln, d.h. auf die politisch bestimmenden Personen fixiert. Kritisch anzumerken ist weiterhin, dass die Literatur über die belarussische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert nur unzureichend reflektiert wurde, obwohl der Titel dies zumindest nahelegen würde. Somit vermittelt der belarussische Teil der Arbeit den Eindruck fragmentarischer, eher beiläufig gewonnener Erkenntnisse. Insgesamt betrachtet, stellt das Werk aber eine große Hilfe für das Verständnis der durch zahlreiche Stolperfallen gekennzeichneten vormodernen russländischen Nationalitätenpolitik dar.

Rayk Einax, Jena

Zitierweise: Rayk Einax über: Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Editions Rodopi Amsterdam, New York, NY 2007. = On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination. ISBN: 978-90-420-2267-6 , in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Einax_Staliunas_Making.html (Datum des Seitenbesuchs)