Christoph Boyer (Hrsg.) Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjet­union, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich. Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2007. XLII, 324 S. = Das Europa der Diktatur, 14; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 217. ISBN: 978-3-465-04026-2.

Mit zeitgenössischer Literatur zu sozialistischen Wirtschaftsreformen, vor allem ‚westlicher‘ Pro­venienz, kann man ganze Bibliotheken füllen. Dies zeigt sich auch am Quellen- und Literaturverzeichnis des Sammelbandes, das überschlägig 200–300 solcher Titel enthält, die selbst in dieser Zahl nicht einmal als repräsentativ anzusehen sind. Die Erschließung neuer Quellen ist dagegen für den Inhalt der meisten Beiträge offenbar nicht entscheidend, wie sich auch an der Aufstellung der benutzten Dokumente und Dokumentensammlungen erweist: Von 28 angeführten Positionen war der größere Teil schon vor dem Umbruch zugänglich. Erkenntnisgewinn durch eine historische Behandlung des Gegenstandes ist danach vor allem von der Einbettung in das Gesamtgeschehen und von präziseren Interpretationen, wie sie die Rückschau auf die ganze sozialistische Periode ermöglichen sollte, zu erwarten.

In der Einleitung gelingt es dem Herausgeber in der Tat, den Nutzen des Vergleichs der für die sechs Länder geschilderten Reformverläufe sichtbar zu machen. Als tertium comparationis stellt er das in groben Zügen gemeinsame Wirtschaftssystem (gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, Zentralverwaltungswirtschaft) heraus (S. XI–XII). Unterschiedliche Ausgangsbedingungen und Kontingenzen entlang der jeweiligen nationalen Pfade und die sie begleitenden Lernprozesse führen zur Differenzierung der Reformverläufe, die allerdings alle in der „Wieder-Abstoßung der […] implantierten Selbststeuerungselemente“ (S. XXXIX) enden. Hier hätte man sich zumindest eine kurze Erwähnung der seit 1902 in den Wirtschaftswissenschaften geführten Diskussion zur Funktionsfähigkeit der Zentralverwaltungswirtschaft gewünscht (der Anteil Langes hieran wird kurz im Länderbericht zu Polen S. 48 gestreift). Der permanente Reformdruck wie auch die „prinzipielle Unreformierbarkeit“ (S. XXXVIII) des klas­sische Systems (der ZVW) finden dort nämlich eine theoretische Begründung.

Zusammen mit der Maxime Lenins vom Primat der Politik – für alle praktischen Zwecke als Herrschaftsanspruch der Partei zu verstehen – ergibt sich so der Antrieb für die Abfolge von Reformen und ihrer Rücknahme (S. XVI–XVII): Dem Herrschaftsinstrument Zentralverwaltungswirtschaft sind ökonomische Effizienzmängel, insbesondere bei der Bewältigung von Komplexität, inhärent. Dem Erhalt dieses Instruments wird aber vor möglichen Effizienzgewinnen, d. h. mehr Gütern zur Durchsetzung innen- und außenpolitischer Ziele (Konsum, Wirtschaftshilfe, Rüstung), so lange immer wieder der Vorzug gegeben, bis die im Zuge des weltweiten technisch-organisatorischen Fortschritts wachsende Komplexität Ende der achtziger Jahre die „Opportunitätskosten“ zu hoch werden lässt (S. XXV).

Von den in den Blick genommenen Aspekten der Differenzierung des Grundmusters werden die Ausgangsbedingungen – die ja auch in der Pfadbindung eine entscheidende Rolle spielen – zu einer Gruppierung der Länderbeispiele genutzt: Die ČSSR und die DDR verbindet der relativ hohe Industrialisierungsgrad. Die übrigen, vorsozialistisch eher agrarisch geprägten Länder werden nach ihrer Eigenschaft als ethnisch einigermaßen homogene Nationalstaaten (Polen, Ungarn) bzw. Vielvölkerstaaten (Jugoslawien, Russland/Sowjetunion) eingeordnet.

Dass die UdSSR in zwei Beiträgen gewürdigt wird, ist nicht so sehr ihrer Rolle als Vorreiter und Hegemonialmacht geschuldet, sondern der Tatsache, dass Wirtschaftsreformen im vom Herausgeber (S. XV) definierten Sinn unter Stalin nicht stattfanden. Hier wurde das „klassische System“ der ZVW erst auf- und ausgebaut. Zu Recht weist Baberowski (S. 3) darauf hin, dass die Neue Ökonomische Politik (NĖP) nicht die Reform irgendeines Systems, sondern ein Behelf zur Überwindung des durch den Bürgerkrieg entstandenen Chaos war. Nach Stalins Tod wurde sie aber – verengend als Idee Lenins geadelt – mit der Konstanz des Musenanrufs im klassischen Epos auch in den „Bruderländern“ zur ideologischen Legitimation nahezu jeglicher Reformkonzeption angeführt.

Der Beitrag von Plaggenborg bringt wenig Neues, wenn man davon absieht, dass er für die sowjetischen Wirtschaftsreformen völlig andere Gründe aufzeigen will, „als ein Wirtschaftswissenschaftler meinen könnte“ (S. 23). Man ist geneigt zu fragen, welche Wirtschaftswissenschaftler er kennt, wenn er einleitend von Hayek ein Denken in „fragwürdigen Kategorien einer vermeintlich universalen und rationalen Wirtschaftsweise und Gesellschaft“ unterstellt (S. 23). Gerade dessen These von der „Nichtzentralisierbarkeit des planerisch notwendigen Wis­sens“ verweist auf die Grenzen subjektbezogener a priori-Rationalität und hätte zur Begründung der geschilderten Vorgänge möglicherweise mehr beigetragen als die Aporie von „stalinistischer Strukturkontinuität und asynchroner Entstalinisierung“ (S. 28) Endlich wäre auch die „systemische Kohärenz“ der „Megama­schine“ Sowjetunion (S. 40) im Lichte der ‚Logic of Collective Action‘ von Olson (der übrigens in einem anderen Beitrag S. 257 als „Wirtschaftshistoriker“ zitiert wird) weniger erstaunlich erschienen. Manchmal kann eben auch für den Historiker eine gute Theorie recht praktisch sein.

Weitere Länderberichte (Kochanowicz: Polen; Boyer: ČSSR; Steiner: DDR und Kovács: Un­garn) belegen das in der Einleitung skizzierte Grundmuster recht eindringlich, auch wenn – und gerade weil – sie das spezifische Umfeld und die Verläufe der nationalen Pfade herausarbeiten. Eine Ausnahme macht der Beitrag von Pokrovac über Jugoslawien, da dort eine Zentralverwaltungswirtschaft nicht vorliegt, auch wenn der Autor die Bezeichnung Arbeiterselbstverwaltung in Frage stellt (S. 125–126). Es bleibt aber beim Primat der Politik und bei der zentralen Instanz der Partei, auch wenn diese bezeichnenderweise 1952 in „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ umbenannt wird.

Die Beiträge im zweiten, „Vertiefungen“ genannten Teil wenden sich – ebenfalls länderweise – Problemen zu, die man, im Verhältnis zum Grundmuster, ‚kollateral‘ bezeichnen könn­te. Es sind dies für Polen die Neutralisierung der 1956 entstandenen Arbeiterräte in den „Konferenzen der Arbeiterselbstverwaltung“ und die moralische Delegitimierung des Gierek-Regimes; für die ČSSR wird das Problem der systemimmanenten Integrationsaversion im Zuge der „internationalen sozialistischen Arbeitsteilung“ beleuchtet; die sich selbst replizierenden Klientel-Systeme auf allen Ebenen des Partei-Staates sowie die Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft für spätere Reformansätze werden an­hand des ungarischen Beispiels analysiert; den Abschluss bilden zwei Untersuchungen zu den Auswirkungen der Reformen der sechziger Jahre in der DDR auf einzelbetriebliche Entscheidungsspielräume und zwischenbetriebliche Kooperationen sowie auf die Diskussion um eine ‚sozialistische‘ Sozialpolitik.

Der Band kann allen interessierten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern empfohlen werden, da er hilft, ihren jeweiligen Gegenstand in der Komplexität des Gesamtgeschehens zu verorten. Dem Historiker mag er den Nutzen sorgsam eingebrachter Erklärungshypothesen der ersteren vor Augen führen.

Karl von Delhaes, Marburg/Lahn

Zitierweise: Karl von Delhaes über: Christoph Boyer (Hrsg.) Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich. Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2007. XLII. = Das Europa der Diktatur, 14; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 217. ISBN: 978-3-465-04026-2, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 300: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Delhaes_Boyer_Physiognomie.html (Datum des Seitenbesuchs)