Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 461‒463

Verfasst von: Franziska Davies

 

Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916. Stuttgart: Steiner, 2010. 378 S., 8 Abb., 1 Kte. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 76. ISBN: 978-3-515-09771-0.

Der Aufstand in Zentralasien gegen die Zarenherrschaft im Jahr 1916 zeigte die Grenzen des russischen imperialen Projektes. Der Baseler Historiker Jörn Happel hat nun eine Studie vorgelegt, die unseren Blick auf diesen Aufstand um wichtige Facetten erweitert. Happel möchte die Geschichte des Aufstandes 1916 in Zentralasien als Teil einer russischen Kolonialgeschichte schreiben, die sich nicht nur auf den Blick des kolonisierenden Staates reduziert, sondern die Menschen in der kolonialen Situation in den Mittelpunkt stellen. Eine solche Herangehensweise ermögliche, dichotomische Zuschreibungen zu vermeiden und die Dynamik der kolonialen Situation aufzuzeigen. Um dieses zu leisten, verfolgt Happel einen mikrohistorischen Ansatz, der durch die „dichte Beschreibung“ nach Clifford Geertz versucht, den Akteuren möglichst nahezukommen. Räumlich beschränkt sich Happel auf die Region Semireč’e.

Seine Analyse des Aufstandes setzt ein mit einem Rückblick auf Semireč’e vor dem Bruch des Jahres 1916. Happel skizziert die „zivilisatorische Mission“ des imperialen Zentrums, die ab 1906 mit der Ansiedlung von Bauern aus anderen Teilen des russländischen Reiches in der Region Semireč’e Hand in Hand ging. Die Kolonisierungspolitik des Reiches schuf Konflikte zwischen den bäuerlichen Siedlern und den Nomaden, für die die landwirtschaftliche Inbesitznahme des Landes eine Bedrohung ihrer nomadischen Lebensweise bedeutete. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte auch in der Region Zentralasien zu einer erhöhten Belastung der Bewohner durch den russländischen Staat: Höhere Steuern wurden den Nomaden ebenso abverlangt wie die Abgabe von Vieh, welches die Grundlage ihrer Lebensgrundlage bildete. Verschärft wurde dieses Problem noch durch die Korruption der lokalen Beamten. Zum Auslöser des Aufstandes wurde schließlich die Entscheidung des Zaren, entgegen der bisherigen Praxis die Kasachen zum Dienst in der Armee einzuziehen. Happel erzählt den Verlauf des Aufstandes aus der Sicht der Menschen, die ihn erlebten. Dabei rekonstruiert er anhand von einigen Fallbeispielen – basierend vor allem auf kurz nach dem Aufstand entstandenen Verhörprotokollen – einerseits die unterschiedlichen Reaktionen der Nomaden auf den Befehl, andererseits aber auch die Ängste der russischen Kolonisten vor dem sich formierenden gewaltsamen Widerstand. Dennoch lässt er Raum für Zwischentöne und zeigt, dass es auch inmitten dieser Gewalt Begegnungen zwischen Nomaden und Russen gab, die von friedlichen interkulturellen Kontakten zeugen.

Anschließend erzählt Happel die Geschichte des Aufstandes noch einmal, aber diesmal aus zwei anderen Perspektiven: der des russischen Rittmeisters Vladimir Želez­njakov, der vor und während des Aufstandes als Mitarbeiter der zarischen Ochrana in Semireč’e seinen Dienst verrichtete, sowie des Nomadenführers Kanat Abukin, der von russischer Seite – zu Unrecht – als der zentrale Rädelsführer des Aufstandes identifiziert und schließlich verhaftet wurde. Diese beiden Akteure hätten den Aufstand von 1916 auf unterschiedlichen Seiten als „verdichtete Zeit“ gemeinsam erlebt. Ihre Lebenswelten dienen dem Autor als Zugang, um die „Vielschichtigkeit der kolonialen Situation“ (S. 185) sichtbar zu machen. Happel rekonstruiert das Umfeld, in dem sich Železnjakov bewegte und die Rollen, die er in seinem Leben innehatte: als Vertreter der Zarenmacht und als deren Kritiker, als Beobachter der ihm fremden Welt der Nomaden – ein Grenzgänger zwischen den Kulturen, der einerseits die Kolonialverwaltung sehr kritisch sah, gleichzeitig aber die Macht des Zaren in Zentralasien loyal zu verteidigen suchte. Auf der anderen Seite stand Kanat Abukin. Auch hier ist für Happel eine eindeutige Einordnung problematisch: Vor 1916 war Abukin in der Einheimischenverwaltung tätig gewesen, sein Sohn hatte sich beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig zum Dienst in der russischen Armee gemeldet, gleichzeitig hatte Abukin aber die Kolonisierungspolitik des russischen Imperiums und die daraus entstandenen Konflikte wahrgenommen.

Schließlich betrachtet Happel das Aufeinandertreffen der beiden in einem Verhörzimmer im zentralasiatischen Vernyj im November 1916. Mit Rückgriff auf die Protokolle dieser Begegnung zeigt Happel, dass Železnjakov das Verhör nicht nur als Instrument der Strafverfolgung diente, sondern dass er es nutzte, um die Berechtigung seiner Skepsis gegenüber der russischen Kolonialpolitik zu überprüfen. Abukin versuchte seinerseits, das Gespräch auf die Themen zu lenken, in denen sich das Versagen der russischen Politik in Zentralasien manifestierte und deren katastrophale Auswirkungen auf das Leben der Nomaden deutlich wurden.

Im letzten Teil der Studie verlässt Happel die Mikrohistorie und bietet dem Leser einen Ausblick auf die Auswirkungen des Aufstandes in der frühen Sowjetunion sowie seine ideologische Inanspruchnahme durch die Bol’ševiki.

Mit seiner Studie ist Jörn Happel eine originelle und überzeugende Deutung des Aufstandes in Zentralasien gelungen. Seinem Anspruch, Kolonialgeschichte ‚von unten‘ zu schreiben und damit Ambivalenzen sichtbar zu machen, die in Großerzählungen der russischen Kolonialgeschichte keinen Platz haben, ist er in jeder Hinsicht gerecht geworden. Auf beeindruckende Weise hat er unterschiedliche Lebenswelten in Zentralasien im späten Zarenreich rekonstruiert. Sein Verzicht auf eine streng chronologische Erzählung zu Gunsten einer multiperspektivischen Narration führt bisweilen zu Redundanzen im Text. Stilistisch stört die wiederholt auftretende Verwendung der ersten Person Singular im Hauptteil der Studie, sowie an manchen Stellen die häufige Setzung von Fußnoten in nur einem Satz. Die Nachweise zu raffen und an den Schluss eines Satzes oder Absatzes zu setzen, hätte die Lesbarkeit noch etwas verbessert. Insgesamt hat Happel einen sehr wichtigen Beitrag zur russischen Kolonialgeschichte geleistet, den man mit großem Gewinn liest.

Franziska Davies, München

Zitierweise: Franziska Davies über: Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916. Stuttgart: Steiner, 2010. 378 S., 8 Abb., 1 Kte. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 76. ISBN: 978-3-515-09771-0, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Davies_Happel_Nomadische_Lebenswelten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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