Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 302-305

Verfasst von: Hans-Christian Dahlmann

 

Elvira Grözinger / Magdalena Ruta: Under the Red Banner. Yiddish Culture in the Communist Countries in the Postwar Era. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 268 S. ISBN: 978-3-447-05808-7.

Adam Michnik: Przeciw antysemityzmowi 19362009 [Gegen den Antisemitismus 1936-2009]. 3 Bände. Kraków: universitas, 2010. 3119 S. ISBN: 978-83-242-1363-4.

Hans-Christian Petersen / Samuel Salzborn (Hrsg.): Antisemitism in Eastern Europe. History and Present in Comparison. Frankfurt: Lang, 2010. 245 S. = Politische Kulturforschung, 5. ISBN: 978-3-631-59828-3.

In den drei vorliegenden Sammelbänden geht es um die Geschichte der Juden und des Antisemitismus in Polen bzw. in anderen osteuropäischen Ländern. Der Sammelband Under the Red Banner beschäftigt sich mit der jüdischen Kultur in den kommunistischen Ländern der Nachkriegszeit. Der Schwerpunkt liegt auf Polen. Ein Großteil der Aufsätze ist zuvor auf Polnisch im Austeria-Verlag unter dem Titel Nusech Pojln erschienen.

In seinem einleitenden Aufsatz gibt Jaff Schatz einen Überblick über die Thematik des Bandes. Er beschreibt, wie in Polen nach dem Krieg versucht wurde, wieder ein jüdisches Leben aufzubauen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen waren beachtenswert: 1948 gab es über 30 jüdische Schulen mit über 3.000 Schülern, 20 jüdische Sportclubs, zwei jüdische Theater, einen Buchverlag, das Jüdische Historische Institut, die jüdische Gesellschaft der schönen Künste und die Vereinigung der jüdischen Schriftsteller und Journalisten. In den jüdischen Genossenschaften arbeiteten 1949 etwa 12.000 Arbeiter. Mit der anhaltenden Emigration jüdischer Polen ging die Anzahl und Bedeutung dieser Einrichtungen jedoch immer weiter zurück. So gab es Mitte der 60er Jahre nur noch fünf jüdische Schulen (S. 1516).

Diejenigen, die in Polen blieben, assimilierten sich zunehmend. Sie gaben ihren Kindern keine jüdischen Vornamen mehr und brachten ihnen auch kein Jiddisch mehr bei. Zugleich wurden polnische Traditionen adaptiert: In vielen Familien feierte man etwa Namenstage und machte zu Weihnachten Geschenke oder stellte einen Weihnachtsbaum auf (S. 21).

Das Scheitern der Wiederaufbauversuche der jüdischen Kultur im Nachkriegspolen hatte neben Antisemitismus, Emigration und Assimilation auch etwas mit der staatlichen Politik zu tun. Bożena Szaynok beschreibt in ihrem Aufsatz die Politik der Arbeiterpartei gegenüber der jüdischen Minderheit in den stalinistischen Jahren 1949 bis 1953. Für die jüdischen Einrichtungen bedeutete der Beginn dieser Phase das Ende ihrer zuvor bestehenden Autonomie. Die Finanzierung der jüdischen Institutionen mit westlichen Geldern wurde nicht mehr erlaubt, die zionistischen Parteien verschwanden ebenso wie das Zentralkomitee der Juden in Polen (Centralny Komitet Żydów w Polsce – CKŻP), an dessen Stelle die von der Partei stärker kontrollierte Soziokulturelle Vereinigung der Juden in Polen (Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów w Polsce – TSKŻ) trat. (S. 32).

Weitere Beiträge in dem Sammelband sind einzelnen jüdischen Einrichtungen in Polen gewidmet. In einem Aufsatz geht es um die jiddischsprachige Zeitung Fołks-Sztyme, die zusammen mit dem weniger bedeutenden Birobidzaner Sztern die einzige jüdische Zeitung im ganzen Ostblock darstellte. Weitere Beiträge behandeln die polnischsprachigen Beilage der Fołks-Sztyme Nasz Gos (Unsere Stimme), die Jüdischen Theater in Rumänien und Polen, die jüdische Gesellschaft für die schönen Künste in Polen sowie das Schaffen der jüdischen Schriftsteller.

Besonders beachtenswert war der Verlag Idisz Buch, über den Joanna Nalewajko-Kulikov schreibt. In diesem Verlag erschienen zwischen 1947 und 1968 etwa 350 Titel; Anfang der 50er Jahre waren es nahezu 30 jährlich (S. 111). Das Verlagsprogramm umfasste Bücher jüdischer Schriftsteller wie Szolem Alechem, Icchak Lejbusz Perec, Dawid Sfard oder Julian Tuwim (in Übersetzung), und jüdischer Historiker wie Emanuel Ringelblum, Ber Mark oder Artur Eisenbach, aber auch Texte Stalins oder Lenins auf Jiddisch. Mit der antisemitischen Kampagne 1968 wurde der Verlag eingestellt (S. 120121).

Alles in allem ist es sehr interessant, wie vielfältig sich das jüdische kulturelle Leben in Polen nach dem Holocaust entwickeln konnte. Der Sammelband Under the Red Banner hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dies zu erforschen. Er kann als Standardwerk angesehen werden.

Ebenso unverzichtbar für alle, die sich mit jüdisch-polnischen Themen beschäftigen, ist der zweite Sammelband. In einem dreibändigen Kompendium hat Adam Michnik weit über 300 Texte gegen den Antisemitismus aus der Zeit von 1936 bis 2009 versammelt. Es handelt sich sowohl um Zeitungsartikel, Essays und wissenschaftliche Aufsätze als auch um Gedichte und Satiren, sowie um politische Reden und Hirtenbriefe. Alle Texte sind chronologisch in Hinsicht auf das Ereignis, auf das sie sich beziehen, geordnet, sowie mit Quellenangabe und einer kurzen Autoreninformation versehen. Auf eine Edierung hat Michnik allerdings verzichtet; er beschränkt sich auf die reine Dokumentation, die auch schon wertvoll genug ist. Dieses Werk erspart Interessierten nicht nur das mühsame Suchen einzelner Beiträge in Bibliotheken, sondern ermöglicht es auch, sich einen Überblick über einzelne Debatten oder Zeitabschnitte zu verschaffen.

Michnik will mit der von ihm herausgegebenen Anthologie belegen, dass die Polen den Antisemitismus „nicht mit der Muttermilch aufgesogen“ hätten, wie er gleich zu Beginn selbst schreibt (S. V). Zugleich bedauert er die fortwährende Existenz des Antisemitismus in Polen und verweist auf Texte in seiner Sammlung, die etwa mit dem Stereotyp der jüdischen Kollaboration mit dem sowjetischen Besatzer 1939 oder der jüdischen Beteiligung am Sicherheitsapparat (UB) in der stalinistischen Phase aufräumen. (S. XIXII)

Der erste der drei Bände dieser Textsammlung umfasst die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier geht es um den Vorkriegsantisemitismus in Polen sowie um das schwierige polnisch-jüdische Verhältnis zur Zeit der Besatzung. Zu lesen sind unter anderem Texte von Władysław Bartoszewski, Jan Tomasz Gross, Beiträge der polnischen Untergrundpresse und Gedichte von Czesław Miłosz.

Der zweite Band enthält Beiträge zur Zeit der Volksrepublik. Hier werden die antisemitische Gewalt der Nachkriegszeit, die antisemitische Welle des Jahres 1956 sowie die antisemitische Kampagne von 1968 thematisiert. In zwei weiteren Kapiteln finden sich die Debattenbeiträge der 70er und 80er Jahre. Enthalten ist der berühmte Text Die armen Polen schauen aufs Ghetto von Jan Błoński, der bedeutende Essay Aleksander Smolars Tabu und Unschuld, ein Artikel Leszek Kołakowskis zum Antisemitismus aus dem Jahre 1956, sowie Texte von Tadeusz Mazowiecki, Henryk Grynberg, Krystyna Kersten, Maria Hirszowicz, Jan Józef Lipski oder Stanisław Krajewski.

Der dritte Band hat schließlich die Zeit nach 1989 zum Gegenstand. Er enthält Texte von Marcin Kula, Feliks Tych, Alina Cała, Zygmunt Bauman, Jerzy Jedlicki, Stanisław Musiał, Ireneusz Krzemiński und vielen anderen. In ihm finden sich die Geschichtsdebatten der letzten 20 Jahre wieder. Dazu zählt vor allem die Kontroverse um den Mord in Jedwabne oder die Diskussion um die Kreuze von Auschwitz. Wie sich zeigt, war die Diskussion um das jüdisch-polnische Verhältnis im Zweiten Weltkrieg für die Zeit nach 1989 prägend, und sie bestimmt auch diesen Band.

Im dritten Sammelband geht es ebenfalls um Antisemitismus. Die hier versammelten Beiträge sind allerdings anders als bei den Michnik-Bänden nicht auf Polen beschränkt. Die Autoren des Buches Antisemitism in Eastern Europe gehen der Geschichte des Antisemitismus in Polen, Tschechien, Ungarn, Jugoslawien, Lettland, Litauen, der Sowjetunion/Russland und Rumänien nach. Dabei bekommt der Leser für die einzelnen Länder einen sehr guten Überblick über die Entwicklungslinien des Antisemitismus und der Politik der jeweiligen Staaten gegenüber der jüdischen Minderheit.

Immer wieder vergleichen die Autoren die Ereignisse in dem von ihnen behandelten Land mit dem, was in den anderen osteuropäischen Staaten geschah. Allerdings fehlt es an einem zusammenfassenden Vergleich. Wer sich fragt, warum sich der Antisemitismus in einigen Ländern parallel und in anderen Ländern abweichend entwickelte, erhält darauf keine Antwort. Es bleibt dem Leser überlassen, eine Synthese aus den einzelnen Beiträgen zu ziehen. Hier gibt es für die künftige Forschung noch einiges zu tun.

Betrachtet man beispielsweise im Querschnitt, was aus dem Band über den Antisemitismus in den osteuropäischen Ländern in der Epoche der kommunistischen Regime entnommen werden kann, so ergeben sich auffällige Gemeinsamkeiten, aber auch bedeutende Unterschiede zwischen den behandelten Staaten. Eine Gemeinsamkeit ist, dass in mehreren Ländern etwa in Polen, Litauen, der Sowjetunion oder Rumänien im Antisemitismus die Identifizierung der Juden mit dem Kommunismus eine wichtige Rolle spielte (S. 18, 157, 181, 210). Während diese Form des Antisemitismus aus der politischen Rechten stammte, war es für die kommunistischen Parteien typisch, dass sich Antisemitismus und Antizionismus miteinander vermischten. Einen Einschnitt dafür stellte das Jahr 1967 dar, als nach dem Sechstagekrieg viele osteuropäische Länder ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrachen.

Unter den antisemitischen Ereignissen in den osteuropäischen Ländern zur Zeit des Kommunismus ragten einerseits antisemitische Prozesse in der Sowjetunion, in der ČSSR und in Rumänien sowie andererseits die mörderische Gewalt in Polen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren heraus (S. 18, 216). Aber auch in Rumänien war die antisemitische und antizionistische Linie des kommunistischen Regimes stark entwickelt, wie in dem interessanten Beitrag über dieses Land ausführlich nachgelesen werden kann (S. 210220).

Ganz anders sah es im sozialistischen Jugoslawien aus, wo es zu keinen nennenswerten Ausbrüchen des Antisemitismus kam. Zwar schwenkte auch der Balkanstaat 1967 auf die antizionistische Linie ein, aber ansonsten hob er sich positiv von den übrigen osteuropäischen Ländern ab (S. 91). Lag dies daran, dass Belgrad sich vom Einfluss Moskaus gelöst hatte, dass der Balkanstaat weniger autoritär geführt war als die Länder des Ostblocks oder bot seine multikulturelle Gesellschaftsordnung den dortigen Juden Schutz? Der Sammelband stellt solche und ähnliche Fragen nicht.

Mit dem Umbruch von 1989/1990 flachte der Antisemitismus in einigen Ländern ab, während er woanders aufbrach, z.B. in Kroatien und Serbien. Unvergessen ist die Äußerung des ehemaligen kroatischen Präsident Franjo Tudjman, der 1992 sagte, Juden brächten Neid und Hass. Gleichzeitig wurde in Kroatien lange die Ustascha verharmlost (S. 77). Ähnliches war in Rumänien zu beobachten, wo nach dem Fall des Kommunismus der ehemalige Diktator Ion Antonescu geehrt wurde. Auch in den anderen osteuropäischen Ländern gibt es heute einen gewissen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Geschichts­erinnerung, beispielsweise wenn in Litauen, Lettland und Polen in unterschiedlicher Weise die Ansicht dominiert, dass Juden für ihre Verfolgung zu hohe Aufmerksamkeit bekämen, wohingegen das eigene Schicksal international zu wenig beachtet werde (S. 22, 128, 160).

Dabei ist insgesamt, wenn auch mit Vorsicht, eine positive Entwicklung zu beobachten. In Polen ist ein starkes gesellschaftliches Interesse an der Kultur und Geschichte der polnischen Juden entstanden. In Meinungsumfragen ist der Antisemitismus immer noch deutlich feststellbar, aber er geht zurück. Auch in den anderen Ländern treten die Folgewirkungen des Zweiten Weltkrieges zunehmend in den Hintergrund. In Kroatien wurde beispielsweise 1999 ein ehemaliger Kommandeur des Konzentrationslagers Jasenovac verurteilt, und 2004 wurden Gedenktafeln für Ustascha-Funktionäre entfernt (S. 7879). Dennoch bleibt der Antisemitismus ein virulentes Phänomen, was es weiterhin zu untersuchen gilt.

Hans-Christian Dahlmann, Hamburg

Zitierweise: Hans-Christian Dahlmann über: Elvira Grözinger / Magdalena Ruta: Under the Red Banner. Yiddish Culture in the Communist Countries in the Postwar Era. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 268 S. ISBN: 978-3-447-05808-7. Adam Michnik: Przeciw antysemityzmowi 1936–2009 [Gegen den Antisemitismus 1936-2009]. 3 Bände. Kraków: universitas, 2010. 3119 S. ISBN: 978-83-242-1363-4. Hans-Christian Petersen / Samuel Salzborn (Hrsg.): Antisemitism in Eastern Europe. History and Present in Comparison. Frankfurt: Lang, 2010. 245 S. = Politische Kulturforschung, 5. ISBN: 978-3-631-59828-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Dahlmann_SR_Antisemitismus_Juden_in_Polen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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