Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 23-25

Verfasst von: Roland Cvetkovski

 

Carolina Armenteros / Richard A. Lebrun (eds.): Joseph de Maistre and his European Readers. From Friedrich von Gentz to Isaiah Berlin. Leiden [etc.]: Brill, 2011. XII, 303 S. = Studies in the History of Political Thought, 5. ISBN: 978-90-04-19394-9.

Es gebe kein ärgeres Geschick für einen Autor, so schrieb einst E. M. Cioran, als verstanden zu werden. Obwohl im Laufe seiner Interpretationsgeschichte nicht nur einmal das Verdikt über Joseph de Maistre ausgesprochen worden istdas letzte erfolgte 1990 durch Isaiah Berlin, der ihn bekanntermaßen als philosophischen Ahnherrn des Faschismus brandmarkteund damit vermeintlich klare geistesgeschichtliche Affiliationen hergestellt wurden, so zeigt die intensive Beschäftigung mit de Maistre spätestens seit dem Erscheinen der umstrittenen Monografie von Robert Triomphe 1968, dass sich das Werk des Savoyarden eindeutigen und in allgemeinem Konsens mündenden Auslegungen offenbar entzieht. Schon zu Lebzeiten gingen die Meinungen zu de Maistre, dessen Denken sich im Grunde genommen stets an einer radikal religionsphilosophischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Tradition und Moderne abarbeitete, weit auseinander: Die Parteigänger von Reform und Revolution verteufelten ihn als katholisch-monarchischen Reaktionär, die französischen ultramontanen und antinapoleonischen Zirkel begrüßten ihn gleichsam als Propheten der Vergangenheit, Staat und Kirche der Restauration wiederum begegneten seinem Werk wegen angeblicher antifranzösischer Untertöne eher kühl bis distanziert.

Diese Vielstimmigkeit in der Aufnahme de Maistres lag größtenteils an seinem unorthodoxen Zugang sowie an seinem stark polemisierenden Stil. Seine um die Figur der Gegenrevolution kreisenden Überlegungen, deren Summe er in den kurz vor seinem Tod veröffentlichten beiden Schriften „Du pape“ (1819) und „Les soirées de Saint-Pétersbourg“ (1821) noch einmal niederlegte, richteten sich eigentlich auf eine historische Versöhnung von Religion und Politik und wandten sich dabei zugleich gegen die in der Vernunft und Selbstbestimmtheit gründenden Ideen der Aufklärung, die er für das Auseinanderfallen der christlich-katholischen Einheit Europas sowie für die Atomisierung der Gesellschaft im Einzelnen verantwortlich machte. Vor dem Hintergrund eines alttestamentarischen Gottesbildes entwarf de Maistre ein geradezu kosmisches Drama von Schuld und Sühne, das der Vorsehung eine herausragende Rolle zumaß und dem Bösen, wie es vor allem mit der Revolution über Frankreich hereingebrochen war, eine klar historische Bestimmung in der Heilsökonomie der Menschheit zusprach. Das Opfer von Unschuldigen wurde nicht nur gebilligt, sondern stellte geradezu eine Notwendigkeit für den fortschreitenden spirituellen Reinigungsprozess in der Geschichte dar, der letztlich in einer friedlichen, gesamteuropäischen Gesellschaft münden sollte, die fest auf den Säulen des Katholizismus, monarchischer Autorität und der aus den Traditionen erwachsenen Institutionen stand.

Dass die leichtfertige Verbindung de Maistres lediglich mit den ultranationalen und faschistisch-totalitären Strömungen vor allem des 20. Jahrhunderts nicht nur einen Kurzschluss darstellt, sondern an seiner eigentlichen Grundidee, die Metaphysik in die Sphäre des Politischen einzubinden, gänzlich vorbeigeht, zeigt nun der vorliegende Band. Auch wenn die Rezeptionsgeschichte des Savoyarden nicht ganz so unerforscht ist, wie die Herausgeber es in ihrer Einleitung herausstreichen, so ist dessen weit ausgreifende Wirkungsästhetik abseits der Ideologien und ihren hinlänglichen bekannten Mythologemen tatsächlich noch nicht geschrieben. Die hier versammelten Beiträge beschäftigen sich daher nicht vorrangig mit den Kernideen de Maistres und den jeweiligen Vereinnahmungen seiner Ausleger, sondern wenden sich diesen dezidiert als Leser seines Werks zu und versuchen deren spezifische Lektüren in den Blick zu bekommen. Dabei tut sich ein erstaunliches Spektrum auf. Zunächst ist es nicht weiter verwunderlich, dass hier berühmte Vertreter der deutschen Romantik wie etwa Friedrich Schlegel oder Franz von Baader in Anschlag gebracht werden. Deren starke geistige Affinität insbesondere zu den traditionalistischen Zügen in de Maistres Schriften findet sich vor allem in ihrer Spätphase, als sie fast allesamt eine Kehrtwende zum Katholizismus vollzogen hatten, und hatte sich recht offensichtlich im Rückgriff auf die (auch von Louis de Bonald) moralisch und sakral restituierte Instanz der Familie niedergeschlagen, die sie als universales Regelungsprinzip sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft auserkoren hatten. Auch die intensive und durchaus kritische Beschäftigung Friedrich von Gentzund Sergej S. Uva­rovs mit den Hauptwerken de Maistres kann nicht wirklich überraschen, da doch gerade sie als maßgebliche politische Größen die europäische Restauration entscheidend mitgestaltet haben und in de Maistres Schriften die Theoreme der kirchlichen und der monarchischen Autorität expliziert wiederfanden. Viel aufschlussreicher indes ist, dass des Totalitarismus und der Reaktion völlig unverdächtige Denker wie Auguste Comte, Walter Benjamin oder Herbert Marcuse sich in die Phalanx der bestrickten Leser de Maistres einreihten. Ihre Lektüren waren dabei keinesfalls von ideologischer Voreingenommenheit, Gegnerschaft oder gar Ressentiments geprägt (was für de Maistre selbst geradezu Grundvoraussetzung war), im Gegenteil: Für Comte etwa hatte der Savoyarde sogar wesentlich zu einervernünftigen Analyse der notwendigen Bedingungen für jede geistige Ordnungbeigetragen. Er teilte mit de Maistre die Kritik an der fadenscheinigen Heiligen Allianz und forderte gleichermaßen eine geistige Erneuerung Europas, die er in der Nähe zu de Maistres Konzept der kirchliche Autorität und der daraus erwachsenden christlich-moralischen Bildungsidee ansiedelte.

Benjamin wiederum hatte über seine Beschäftigung mit Baudelaire den Weg zu de Maistre gefunden. Es ist kein Geheimnis, dass sich Baudelaires poetologische Theorie der correspondances stark an de Maistres Konzept der réversibilité anlehnte, hatte er doch von sich selbst behauptet, dass erst de Maistre ihn eigentlich zur Vernunft gebracht habe. Benjamins Faszination für de Maistre entzündete sich aber vor allem daran, dass dieser die Moderne konsequent theologisch zu fassen versucht und im Zuge dessen in seiner erst posthum erschienenen Schrift „Examen de la philosophie de Bacon“ die Wissenschaft als zergliederndes und die Ideen isolierendes Instrument offen verurteilt hatte. Dies schlug sich auch in Benjamins Untersuchung zur Entstehung der Massen in Paris während des Second Empire nieder, in der er zunächst das zunehmende gegenseitige Misstrauen als neues Signum des modernen Menschen mit der Idee der Erbsünde parallelisierte. Seine Lektüre des „Examen“ weitete jedoch de Maistres wissenssoziologische Kritik an Bacon nun sozialpolitisch aus, und er schlussfolgerte, dass die Gegenrevolution unweigerlich die Wiederherstellung des zwischenmenschlichen Bandes, das in der Moderne offensichtlich zerschnitten war, bedeuten musste.

Marcuse schließlich wurde von der Pathologie der Autorität angezogen, wie sie von de Maistre im Zuge seiner Aufklärungskritik entworfen worden war. Auch Marcuses ausdrücklichdialektische Lektürebeschäftigte sich vor allem mit der de Maistreschen Figur der Gegenrevolution und insbesondere mit deren Umschlag in ein permanentes Ordnungsprinzip. Im Licht besonders des 20. Jahrhunderts, dessen Katastrophen Marcuse schmerzhaft am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatte, stand gerade die dunkle Seite der Aufklärung mit ihrer Fragmentarisierung und zugleich Rationalisierung des Lebens, wie sie de Maistre trotz seiner überzogenen und teilweise auch bösartigen Invektiven als erster klar erkannt und benannt hatte, mit Pate für Marcuses utopisches Denken. Freiheit, um die es Marcuse immer ging, entpuppte sich als eine konstante Gegenbewegung ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Umständeeine Radikalität, die vor allem in ihrem Anti-Establishment vieles de Maistre verdankte.

Freilich, die im vorliegenden Band vorgestellten Lektüren Einzelner mögen willkürlich erscheinen und lediglich den Höhenkamm der europäischen Geistesgeschichte begehen; auch ließe sich die nach nationalen Kriterien vorgenommene Einteilung dieser Lektüren sowie deren unterschiedliche Gewichtung leicht kritisieren. Im Mittelpunkt stehen deutsche und französische Leser; italienische, osteuropäische und britische sind mit je einem Beitrag deutlich unterrepräsentiert. Ostmitteleuropäische, skandinavische oder auch spanische Lektüren fehlen ganz. Dies aber ist leicht zu verschmerzen, nicht nur, weil man angesichts der momentan durchaus sichtbaren Forschungen zu de Maistre berechtigt Hoffnung haben darf, dass sich auch diese Lücke langsam schließen lassen wird, sondern vor allem angesichts des weiteren Ertrages, den dieser Sammelband seinen Lesern bietet: Ideengeschichte nicht vorrangig als Ideologiekritik zu schreiben, sondern aus einer individuellen Sozialgeschichte der literarischen bzw. philosophischen Milieus heraus zu denken. Hier hält die Kontingenz wieder Einzug in die Historiografie und zeigt einmal mehr, dass Zuschreibungen von links/rechts oder reaktionär/fortschrittlich den Ideen, die sie damit kategorisieren, nicht nur nicht gerecht werden, sondern die Geistesgeschichte im Sinne einer sich in ihren Verzweigungen scheinbar logisch fortspinnenden Erzählung und ihren scheinbar ebenso logischen politischen Umsetzungen ungebührlich vereinfachen. Lektüreerlebnisse gehen nicht einfach in ihren jeweiligen Umständen auf; sie stecken vielmehr einen Erfahrungshorizont ab, der sich nicht gänzlich rationalisieren lässt.

Roland Cvetkovski, Köln

Zitierweise: Roland Cvetkovski über: Carolina Armenteros / Richard A. Lebrun (eds.): Joseph de Maistre and his European Readers. From Friedrich von Gentz to Isaiah Berlin. Leiden [etc.]: Brill, 2011. XII, 303 S. = Studies in the History of Political Thought, 5. ISBN: 978-90-04-19394-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Cvetkovski_Armenteros_Joseph_de_Maistre.html (Datum des Seitenbesuchs)

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