Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 149-151

Verfasst von: Kateřina Čapková

 

Martina Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?. Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 18001867. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 340 S., 22 Abb., 5 Graph. = Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, 2. ISBN: 978-3-525-31020-5.

Nur eine „Geld-Emancipation“? ist eine Gruppenbiographie von fünf großbürgerlichen Prager jüdischen Familien während des 19. Jahrhunderts. Diese methodologische Wahl erweist sich als außerordentlich produktiv und bereichernd. Martina Niedhammer schafft es in ihrem hervorragenden Buch nicht nur, einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Juden in Prag und in Böhmen zu leisten, sie bietet auch überzeugende Thesen zur allgemeinen jüdischen Geschichte, die einige gängige Interpretationen in Frage stellen.

Auch wenn Niedhammer im Titel des Buches die Termini Loyalitäten“ und „Lebenswelten“ hervorhebt, findet man im Text oft auch Umschreibungen wie „komplexe Identitäten“, „Selbstkonzepte“ und „Selbstverständnis“, die alle unterstreichen, dass es Niedhammer um die subjektive Perspektive der Selbstverortung der Familienmitglieder geht. Sie benutzt zu ihrer Analyse eine sehr breite Quellenbasis – Memoiren, Korrespondenz, Nachlässe, amtliche Dokumente, aber auch künstlerische und materielle Quellen wie Gemälde, Toramäntel oder Grabsteine.

Die Kapitel sind nach sechs realen oder imaginierten Orten aufgeteilt. Diese Komposition ermöglicht anhand von ortsgebundenen Themen unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. Die Jerusaleminsel in der Moldau steht für das industrielle Unternehmen und das Geschäftsleben; der Sophiensaal in der Prager Neustadt für das Vereins- und Gesellschaftsleben; der Tempel in der Geistgasse für das religiöse Leben; die k.k. Hofkanzlei in Wien für die administrative wie auch politische Verankerung und für Verhandlungen; die Villa Portheimka, das Wohnhaus der Familie Porges im Smichow bei Prag, repräsentiert das Familienleben und letztendlich Jerusalem wirkt als „emotionaler Fluchtpunkt“ wie auch Ort für karitative Erziehungsexperimente.

Das Resultat einer solchen tiefgehenden und vielschichtigen Analyse ist in mehreren Hinsichten bereichernd. Überzeugend zeigt Niedhammer, wie selbstbewusst, aktiv und kreativ die Familienmitglieder in vieler Hinsicht gehandelt haben. Die früher in der Forschungsliteratur überwiegende Perspektive von „Partizipation durch Assimilation“ oder einer einseitigen „Akkulturation“ bekommt mit diesem Buch wieder einen Schlag.

Niedhammers Mikroanalyse der sozialen Beziehungen der fünf jüdischen Familien zeigt die Breite der kulturellen, politischen und karitativen Aktivitäten, die ganz natürlich in den Kontext der Prager großbürgerlichen Elite eingegliedert waren: so zum Beispiel die Unterstützung des Vaterländischen Museums, der Měšťanská beseda oder des Gewerbevereins, das Interesse für Bohemismus oder Austroslawismus, die Teilnahme am prominenten Musikleben der Stadt (bei den Porges beispielsweise spielte bei Konzerten auch Antonín Dvořák, Julie Lämel nahm Klavierunterricht bei Wenzel Johann Tomaschek, Sophie Lämel wieder bei Carl Maria von Weber). Zugleich waren die privaten wie auch die gesellschaftlichen Kontakte dieser Familien landesgrenzenüberschreitend. So gehörten zum Bekanntenkreis dieser Unternehmer nicht nur lokale Größen wie František Palacký und sein Schwiegersohn František Ladislav Rieger, sondern auch Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine und Rahel Varnhagen. Wie aber Niedhammer überzeugend am religiösen Leben, an den Heirats- und Begräbnisritualen, wie auch an dem karitativen Projekt Lämels in Jerusalem zeigt, bedeutete diese Inklusion und aktive Teilnahme am kulturellen, politischen und industriellen Leben Prags und Europas keine Abschwächung der religiösen Werte und der Bedeutung der jüdischen Gemeinschaft für diese Familien.

Faszinierend ist auch Niedhammers Neuinterpretation der Nobilitierung der ersten Juden, darunter auch einiger Mitglieder der untersuchten Familien. Sie widerspricht der gängigen Interpretation der Nobilitierung als einem Akt, in dem die jüdische Elite die individuelle Emanzipation der allgemeinen vorgezogen habe. Niedhammer zählt die vielen Bestrebungen insbesondere der Familien Lämel und Porges um die Emanzipation aller böhmischen Juden auf. Wenn solche Verhandlungen um die Judenemanzipation in der älteren Generation eher die Form von Gnadengesuchen, verbunden mit prächtigen Geschenken, hatten, so verliefen in der jüngeren Generation, etwa bei den Brüdern Porges in den 1830er Jahren, die Verhandlungen eher auf der Basis eines breiten transnationalen Netzwerkes und anhand langfristiger Strategien (S. 143-185). Wie Niedhammer in Detail und anhand überzeugender Dokumente zeigt, erfolgte die Nobilitierung dieser Personen nicht, weil sie eine individuelle Emanzipation der allgemeinen vorgezogen hätten, sondern umgekehrt, weil der Staat die Emanzipation aller Juden konsequent verweigerte und lieber diesen einzelnen Fürsprecher durch die Nobilitierung zum Schweigen bringen wollte.

An mehreren Stellen des Buches wird auf die spezifischen Züge der Prager jüdischen Eliten und ihrer Familien hingewiesen. Zum einen kann sie feststellen, dass im Unterschied zu Wien und Budapest die neue jüdische ökonomische Elite nach 1800 aus alten Prager Familien stammte. Migration spielte also bei der Herausbildung der großbürgerlichen Schicht der jüdischen Bevölkerung eine marginale Rolle (S. 4546). Zweitens stammte das Vermögen dieser Familien hauptsächlich aus der Großhandelstätigkeit. Im Unterschied zu den Bankiersfamilien aus Frankfurt oder Wien, war keine dieser Prager Familien mit ehemaligen Hoffaktoren verbunden (S. 46). An anderer Stelle im Buch findet man das dritte Spezifikum Prags: Auch wenn es dort wie in anderen Städten Europas antijüdische Unruhen und Ressentiments gab, so „nahmen Vertreter des jüdischen Großbürgertums spätestens seit den 1840er Jahren regen Anteil am örtlichen Vereinsleben“ (S. 70). Es sei „auffällig, dass sich in Prag über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus keine Bestrebungen nachweisen lassen, ein eigenständiges, auf ethnischen (nichtreligiösen) Prinzipien fußendes jüdisches Vereins- und Geselligkeitsleben zu etablieren, wie dies in anderen mitteleuropäischen Städten häufig der Fall war, nicht zuletzt auch als Reaktion auf die Exklusivitätsansprüche nichtjüdischer Vereine“ (S. 70, Fußnote 7).

Für den Leser ist aber zugleich überraschend, dass eine solche Schlüsselinformation in der Fußnote auftaucht. Niedhammer hätte diesen Befund noch vertiefen und nach den Gründen fragen können, auch deshalb, weil ihre eigenen früheren Thesen als Erklärung dienen könnten. Hängt die Tatsache der Inklusion der jüdischen Eliten in den 1830er und 40er Jahren nicht damit zusammen, dass es sich um Familien handelte, die in der Stadt schon längst sozial vernetzt waren und das Milieu gut kannten? Und da es sich um keine ehemaligen Hoffaktoren handelte, war auch ihre Startposition im Geschäftsleben vergleichbar mit derjenigen der anderen bürgerlichen Unternehmer aus christlichen Familien, und so war auch die gemeinsame Teilnahme am Gesellschaftsleben für beide Seiten akzeptabel.

Das auffällig friedliche Zusammenleben von christlichen und jüdischen großbürgerlichen Familien in Prag, wo zumindest vor 1848 das soziale Milieu der Gäste bei gesellschaftlichen Veranstaltungen wichtiger war als die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit (S. 221), könnte auch als eine zusätzliche Erklärung für die spätere außerordentliche Inklusion der jüdischen Elite in die deutschsprachige Oberschicht von Prag dienen. (Zur Inklusion der Prager jüdischen Elite am Ende des 19. Jahrhunderts, siehe insbesondere Gary Cohen: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague, 18611914. Rev. 2nd ed. Lafayette 2006.)

Niedhammer ist es gelungen ein innovatives, fundiertes und ideenreiches Buch zu schreiben, das uns einen plastischen und vielschichtigen Blick in die Denkweise, den Alltag und die Selbstverortung von fünf großbürgerlichen jüdischen Familien in Prag vermittelt. Zugleich ist ihr Buch ein nicht zu übersehender, wichtiger Beitrag zur Geschichte der böhmischen und habsburgischen Juden, wie auch zur Stadtgeschichte von Prag.

Kateřina Čapková, Prag

Zitierweise: Kateřina Čapková über: Martina Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?. Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 340 S., 22 Abb., 5 Graph.. = Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, 2. ISBN: 978-3-525-31020-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Capkova_Niedhammer_Geld-Emancipation.html (Datum des Seitenbesuchs)

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