Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 477‒478

Verfasst von: Marie-Janine Calic

 

Ljiljana Radonic: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards. Mit einem Vorwort von Aleida Assmann. Frankfurt a. M., New York: Campus, 2010. 422 S., 4 Tab., Abb. = Campus Forschung, 949. ISBN: 978-3-593-39303-2.

Gegenstand der 2009 abgeschlossenen Wiener Dissertation ist der Wandel der Vergangenheitspolitik in Kroatien nach dem Wahlsieg Franjo Tudjmans 1990. Radonic geht der identitätsbildenden Wirkung von Geschichtsdiskursen am Beispiel der Auseinandersetzung mit dem Ustascha-Regime und dem Zweiten Weltkrieg nach. Beantwortet werden soll die Frage, wie sich der politische und justizielle Umfang seit dem Regimewechsel bis in die Gegenwart verändert hat.

Nach eingehender Befassung mit der theoretischen Literatur zum Thema Erinnerung und Geschichtspolitik sowie ausführlicher Darstellung der Vorgeschichte wendet sich die Autorin dem empirischen Teil zu. 545 Artikel, die in den TageszeitungenVjesnik“ undNovi List“ im Zeitraum von 1985 bis 2008 über Themen des Zweiten Weltkriegs erschienen sind, hat sie diskursanalytisch durchleuchtet.

Radonic zeigt, wie der Nachkriegskonsens vonBrüderlichkeit und Einheitbei der Deutung des Zweiten Weltkrieges in den sechziger Jahren einer stärkeren Nationalisierung der historischen Interpretation wich. Leitidee der Geschichtspolitik des Historikers und Präsidenten Tudjmans seit 1990 war die sogenannte Aussöhnung aller Kämpfer für die kroatische Unabhängigkeit, von Kommunisten, Nationalisten und Bürgerlichen. Die gespaltene kroatische Nation sollte dergestalt wieder zusammengeschweißt werden. Der faschistische Ustascha-Staat wurde nun als legitimer Schritt auf dem Weg zur modernen kroatischen Staatlichkeit gedeutet und das Massaker von Bleiburg, als die Partisanen bei Kriegsende tausende Angehörige der verfeindeten Truppen töteten, zum zentralen nationalen Gedächtnisort stilisiert. Nach dem Tode Tudjmans, der inneren Erneuerung seiner Partei Kroatische Demokratische Gemeinschaft und der fortschreitenden Annäherungen an die EU lösten sich die Verhärtungen in den national gefärbten Geschichtsbildern.Wirunddie anderenstanden sich nicht mehr als klar definierte Feinde gegenüber. Die Anhänger des Ustascha-Regimes etwa wurden wieder eher als Kriegsverbrecher denn als Unabhängigkeitskämpfer gesehen. Radonic macht deutlich, wie die Deutung von Geschichte mit politischen Veränderungen korrespondierte. Je näher Kroatien an die EU heranrückte, desto rascher lösten sich alte Gut-Böse-Dichotomien auf. Dass sich Kroatien unzweifelhaft in Richtung einereuropäischen Erinnerungsgemeinschaftbewegt, zeigt der Umgang mit der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Jasenovac, das die Standards der europäisierten Holocaust-Musealisierung erfüllt. Auch nach dem Systemwechsel wurde und wird in Kroatien weiter der Opfer der faschistischen Vernichtungspolitik gedacht, freilich oft in einem Atemzug mit denen kommunistischer Verfolgung.

Radonic stellt fest, dass ein kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit nur in demokratischen Staaten möglich ist, auch wenn nicht alle Demokratien einen solchen tatsächlich pflegen. Mit ihrer Wiener Dissertation hat sie einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Debatte um Erinnerungsgeschichte und Vergangenheitspolitik in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens geleistet. Allerdings führt der TitelKrieg um die Erinnerungin die Irredas angenommene konfrontative Gegenüber zum beschriebenen kroatischen Mainstream kommt praktisch nicht vor, sodass ein Konflikt konkurrierender Geschichtsbilder in der Gegenwart nicht näher belegt wird.

Die Arbeit bestätigt den Forschungsstand zu den postjugoslawischen Geschichtsumdeutungen, aber jetzt ist dieser Befund empirisch breiter abgesichert, kommt differenziert und theoretisch fundiert daher. Die genauen Wechselwirkungen zwischen historischen Neuinterpretationen, nationaler Identitätsbildung und anderen Funktionen von Geschichtspolitik hätte möglicherweise noch klarer herausgearbeitet werden können. Nur allzu oft stolpert man beim Lesen über gendersensible Sprache, wenn zum Beispiel vomHeldInnengedenken(mit großem I) die Rede ist. Den Forschungen zur europäischen Geschichtspolitik hat die Autorin mit dem kroatischen Beispiel eine wichtige und lesenswerte Studie hinzugefügt.

Marie-Janine Calic, München

Zitierweise: Marie-Janine Calic über: Ljiljana Radonic: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards. Mit einem Vorwort von Aleida Assmann. Frankfurt a. M., New York: Campus, 2010. 422 S., 4 Tab., Abb. = Campus Forschung, 949. ISBN: 978-3-593-39303-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Calic_Radonic_Krieg_um_die_Erinnerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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