Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 289-290

Verfasst von: Marie-Janine Calic

 

Heike Karge: Steinerne Erinnerung – Versteinerte Erinnerung? Kriegsgedenken in Jugoslawien (19471970). Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 267 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 49. ISBN: 978-3-447-06270-1.

Aus der großen Menge neuerer Literatur zur Erinnerungskultur sticht diese Dissertation über das Kriegsgedenken im sozialistischen Jugoslawien in den Jahren 1947 bis 1970 durch ihre Originalität hervor. Auf den Spuren der bahnbrechenden Arbeit Jay Winters stellt sie die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure des öffentlichen Gedenkens in den Vordergrund. Über die Beschreibung offizieller Erinnerungspolitik hinaus geht es ihr um „das Ineinandergreifen einer Vielfalt sozialer Praktiken, die den diskursiven Raum der Vergangenheitsaneignung (ver-formt), materielle Effekte hervorbringt und mehrdeutige und eigensinnige Realitäten schafft“ (S. 18). Die Autorin nimmt in erster Linie den Kriegsveteranenbund in den Blick und zeigt, wie sich die durch die politische Führung verordnete „Vergangenheitsverständigung“ durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Beteiligter in eine „Vergangenheitskommunikation“ vor Ort verwandelte. Der offizielle Erinnerungskanon, so die Kernthese, erfuhr im Prozess der Aneignung durch verschiedene Gruppen auf den Ebenen von Gemeinden, Republiken und im Bund sehr vielfältige Veränderungen und Verformungen. Politisch vorgegebene Interpretationen der Geschichte hatten nur teilweise Bestand, weil etwa die Gemeinden ganz aus eigenem Antrieb beträchtliche Ressourcen für die Toten-, Gräber- und Sozialfürsorge mobilisierten. Das Kriegsgedenken wurde jedoch durchaus auch zentral gesteuert, wie das Kapitel über den Ausschuss zur Kennzeichnung und Herrichtung historischer Stätten des Volksbefreiungskrieges belegt. Der offizielle Vergangenheitsdiskurs machte in der untersuchten Periode einen Wandel durch. Nach den Helden des Partisanenkampfes traten die zivilen Opfer des Massensterbens sowie die überlebenden Deportierten und Internierten erst relativ spät, nämlich ab den 1960er Jahren, als Objekte des offiziellen Gedenkens in Erscheinung.

Die Autorin fokussiert ihre Untersuchung auf konkrete Themenfelder, die sie mit einer Fülle empirischen Materials ausleuchtet. Hierin liegt die besondere Stärke der Untersuchung. Sie erfasst Pläne und Diskussionen über Kriegs- und Partisanendenkmäler sowie über symbolträchtige Erinnerungsorte wie das Konzentrationslager Jasenovac, den Gedenkpark für die Opfer des Massakers von Kragujevac und die Gedenkstätte an der Sutjeska, wo die Partisanen 1943 unter extrem großen Verlusten die entscheidende militärische Wende im Kampf gegen die Besatzungsmacht herbeiführten. Neben der Trauerbewältigung, so zeigt Karge, verweist das Kriegsgedenken jedoch auch noch auch weitere Handlungsfelder: den Tourismus, die Kunst und pädagogisch-moralische Werte.

Die Autorin ist der praxeologischen Wende verpflichtet, was einerseits zu originellen Einsichten führt, andererseits aber auch zu analytischen Beschränkungen. Die Kernargumentation kreist immer wieder um die Begrifflichkeiten „soziale Praktiken“, „Aushandlungsprozesse“ und „Diskurse“. Gerne würde man aber weiterfragen: Wie gingen die Verlierer der Krieges mit der Erinnerung um? Welche Werte spiegelte die offizielle Denkmalskultur wider und was bedeutete die Vermittlung überwiegend männlich konnotierter Tugenden und patriotischer Werte wie Freiheitsliebe, Opferbereitschaft, Kampfgeist und Heldentum? Wie verhielt sich das offizielle Gedenken zum individuellen Erinnern?

Welche Rolle die Erinnerungen bzw. das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg für den Zerfall Jugoslawiens bedeutete, wird an prominenter Stelle aufgeworfen, jedoch nur kursorisch beantwortet: In den 1960er Jahren wurde „der Raum vorbereitet“, „in dem sich künftige ‚Vergangenheitsschlachten‘ würden austoben können“. Die Bürgerkriegserfahrung wurde aus dem offiziellen Diskurs ausgeblendet, während man an rückwärtsgewandten Gedenkinhalten festhielt.

Wenngleich die Autorin nicht alle Fragen beantworten kann, gelingt es ihr auf vortreffliche Weise, ein sehr plastisches und zugleich differenziertes Bild von der Vielfalt des offiziellen Kriegsgedenkens im sozialistischen Jugoslawien zu zeichnen.

Marie-Janine Calic, München

Zitierweise: Marie-Janine Calic über: Heike Karge: Steinerne Erinnerung – Versteinerte Erinnerung? Kriegsgedenken in Jugoslawien (1947–1970). Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 267 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 49. ISBN: 978-3-447-06270-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Calic_Karge_Steinerne_Erinnerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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