Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 320-321

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Asta Vonderau: Leben im „neuen Europa“. Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus, Bielefeld: transcript, 2010. 235 S., 13 Abb. ISBN: 978-3-8376-1189-2.

Um es gleich vorweg zu sagen: das Buch ist gut zu lesen, lenkt den Blick auf viele sehr interessante Phänomene und kann insgesamt als gelungen bezeichnet werden, aber es weckt manchmal höhere Erwartungen, als es dann einzulösen vermag. Das beginnt bereits beim Titel und endet beim Klappentext. Wenn man „neues Europa“ und Postsozialismus liest, wäre zu erwarten, dass mehr als ein Land untersucht wird. Selbst aus dem Inhaltsverzeichnis geht nicht hervor, dass es tatsächlich nur und ausschließlich um Litauen geht. Ob die durchaus interessanten Beobachtungen und Schlussfolgerungen auch für andere postsozialistische Länder gelten dürfen, müsste erst noch verifiziert werden. Davon einfach auszugehen und die Ergebnisse auf das ganze „neue Europa“ (des ehemaligen Ostens) zu übertragen, halte ich für eine nicht ganz korrekte Deklaration des Inhalts.

Sieht man darüber hinweg und lässt sich ganz auf die litauische Gesellschaft ein, dann kanns losgehen: Eine erfrischend subjektive Einleitung und „Methodologische Überlegungen“ eröffnen das als Dissertation 2008 entstandene Buch. Mit vielen autobiographischen Details angereichert, führen sie in den Gegenstand (die litauische Elite), den Forschungsstand und die spezifischen Problematiken ein. So dient der Autorin beispielsweise ein Loch am Knie des eigenen Hosenanzugs als Aufhänger zur Erklärung der Tücken ethnologischen Forschens im relativ neuen Kontext von Machtfeldern (S. 40). Ein Foto der Autorin mit ihrem Mann, ursprünglich als Hochglanzdoppelseite in der Frauenzeitschrift Laima (S. 52) abgedruckt, führt in die Schwierigkeiten des „Ich-war-da“-Ethnologen ein, und auch die litauische Herkunft der Autorin verleiht ihrer Forschung in der alten Heimat eine besondere Note.

Die Studie stützt sich auf Interviews, Beobachtungen der symbolischen Repräsentationen sowie Analysen medialer Diskurse und arbeitet mit der Methode des „studying through“, das heißt, es geht der Autorin besonders darum, „den Wandel der Herrschafts­formen sowie der Relationen zwischen Individuen und Gesellschaft im spezifischen sozialen und historischen Kontext darzustellen“ (S. 39). Sehr anschaulich wird das auf einem Foto, das auch den Einband des Buches schmückt: Zu sehen ist die Mutation des homo sovieticus über den homo lituanus zum homo europaeus, visualisiert anhand eines Mannes in jeweils unterschiedlicher Haltung und Kleidung. Das Bild war anlässlich des Jahrestages des EU-Beitritts 2005 Titelblatt des Nachrichtenmagazins Veidas. Diese Transformation der körperlichen Erscheinung des Individuums und seiner materiellen Güter im Wechselspiel mit dem gesamtgesellschaftlichen Projekt sozialer Ordnung ist der Hauptgegenstand des Buches.

In zwei Hauptteilen geht die Autorin dann ins Detail.

Im ersten Kapitel untersucht sie die Transformation des Individuums, im zweiten die konkreten Erfolgsmodelle, ihre symbolischen Bedeutungen und kulturellen Praxen.

Bevor sie sich im ersten Teil dem unternehmerischen Individuum zuwendet, wirft die Autorin einen Blick auf den Konsum. Um den Wandel beschreiben zu können, erinnert sie zuerst an die sozialistischen Zeiten des Mangels, des Schlangestehens, die Bedeutung von Tausch und Netzwerken. Durch ihr (Nicht-)Vorhandensein wurden die Dinge zu Akteuren. Mit dem Kollaps des Sowjetsystems gewann der Konsum einen ganz neuen Stellenwert, er wurde zum Distinktionsmerkmal. Vonderaus Hauptaussage ist, dass die Imagination vom guten Leben im Konsum sichtbar werde, Materialität gewinne. Leider bettet Vonderau ihre gut auf den Punkt gebrachten Beobachtungen zum Konsum dann in die etwas trivialen Feststellungen von der Gleichzeitigkeit verschiedener sozialer und ökonomischer Strukturen oder das Nebeneinander von politischem, ökonomischem und kulturellem Wandel.

Die Integration der Vergangenheit in die Gegenwart, die Umdeutung und Rekontextualisierung von – bereits im Sozialismus vorhandenen – Strategien und Verhaltensweisen sind das Erfolgsgeheimnis des unternehmerischen Individuums, die dann vor allem in äußeren Merkmalen zum Ausdruck kommen.

Die Zusammenführung von Konsum und Unternehmertum und ihre Materialisierung in verdinglichter Kultur sind Thema des dritten Unterkapitels. Es geht um die Beziehung zwischen Mensch und Ding, die fließende Grenze zwischen Sein und Haben. Hunger und Geschmack werden ganz wörtlich genommen: Riechen, Schmecken, Anfassen, die direkte Einverleibung bestimmen diese Zeit körperlicher Erkundigungen. Vonderau beschreibt sehr eindrucksvoll, wie ganz langsam aus Hunger schließlich (guter) Geschmack wird, wie pures Habenwollen sich zu bewusster Auswahl wandelt, wie sich das Kriterium Quantität in Qualität verschiebt und schließlich Geschmack als Klassifikationsprinzip wirksam wird.

Mediale Repräsentationen und die Selbst-Inszenierung rücken im zweiten Hauptteil in den Vordergrund. Vonderau entwickelt eine Ikonologie des guten Lebens und analysiert die neue Zeichensprache. Auch hier ist wieder besonders eindrucksvoll, dass es nicht nur um Dinge wie Kleidung, Autos oder Schmuck und Accessoires geht, sondern um den eigenen Körper. Sie führt Beispiele von Erfolgreichen an, die ihre Wandlung zum neuen Menschen am eigenen Leib erfahren und z.B. ihre Abmagerungskur inklusive Schönheitsoperation ausführlich in den Medien inszenieren, um so ihren Erfolg zu materialisieren. Für den Körper gelten die gleichen Werte wie für Räume, Städte, Architekturen als da wären Transparenz, Ordnung und Sauberkeit, so dass körperliche „Unreinheiten“ die soziale Stellung verraten. Insbesondere der Frauenkörper ist von solchen z.T. rituellen Reinigungen betroffen. Vonderau kann in diesem Zusammenhang geschlechtsspezifische Rollen ausmachen, die bis zu der – vielleicht etwas zu starken – These führen, dass der Frauenkörper als Investitions- und Repräsentationsfläche für die Nation diene und Körperpflege als Pflicht gegenüber der Gesellschaft verstanden werden müsse.

Vonderaus Buch beleuchtet eine im klassisch politikwissenschaftlichen Kontext eher ungewöhnliche Seite postsozialistischer Transformation, denn die Analyse von „Konsumstrategien, Lebensstilen und Körpertechniken als Ausdrucksformen veränderter Vorstellungen von Erfolg und gutem Leben“ wie es im Klappentext heißt, kommt sonst eher selten in Werken zu dieser Thematik vor. Wenn die Übertragung auf andere postsozialistische Gesellschaften nun nicht nur postuliert, sondern ebenso vielfältig, unterhaltsam und gelungen ausgeführt würde, hätte Vonderau mit ihrer Studie ein gutes Beispiel gegeben.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Asta Vonderau: Leben im „neuen Europa“. Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus, Bielefeld: transcript, 2010. 235 S., 13 Abb. ISBN: 978-3-8376-1189-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Vonderau_Leben.html (Datum des Seitenbesuchs)

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