Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 1, S.  141-142

Peter W. Rodgers Nation, Region and History in Post-Communist Transitions. Identity Politics in Ukraine, 1991–2006. With a foreword by Vera Tolz. ibidem-Verlag Stuttgart 2008. 195 S., 7 Tab., 1 Kte., 3 Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 80.

Einiges von dem, was Rodgers’ Buch (wohl seine Dissertation) behandelt, erscheint bereits im Titel. Es geht tatsächlich um Nation, Region und Geschichte in der postkommunistischen Übergangszeit, genauer um Identitätspolitik in der Ukraine von 1991 bis 2006. Allerdings verschweigt der ausführliche Titel, dass sich der Autor nur den Osten der Ukraine zur genaueren Untersuchung vorgenommen hat. Ziel der Studie ist es zu zeigen, wie wichtig die Regionen mit ihren besonderen Eigenheiten für die Erforschung der nationalen Identität der Ukraine sind. Bislang sei den Faktoren Ethnizität und Sprache zu viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Sie müssten durch die Hinzuziehung des regionalen Aspektes ergänzt werden, so Rodgers’ These.

Gerade die Ukraine werde von vielen Forschern leichtfertig und vorschnell in einen europäisch orientieren Westen und einen russifizierten Osten aufgeteilt.

Rodgers hingegen nimmt sich drei Beispielsregionen aus dem russisch-ukrainischen Grenzgebiet (Luhans’k, Sumy, Charkiv) zur genaueren Untersuchung vor, um deutlich zu machen, dass die bisherigen Kriterien zu kurz greifen und „der Osten“ gar nicht so einheitlich ist wie er oft wahrgenommen wird. Nach zwei eher theoretisch angelegten Kapiteln zum Thema Region im allgemeinen und den ukrainischen Regionen im Besonderen zeigt er anhand der Geschichtsinterpretation die regionalen Unterschiede auf. Er geht davon aus, dass Schulgeschichtsbücher Werkzeuge des Staates sind, mit denen dieser nationale Identität definiert und verbreitet. Dabei leiten ihn drei Fragen: Wo kommen wir her? Wer sind wir? und Wer sind wir nicht? (Russland als das „Andere“). Zuerst analysiert er Geschichtsbücher, um dann nach dem Geschichtsverständnis bei den Menschen selbst zu fragen. Er kontrastiert die ukraineweiten standardisierten Geschichtswerke mit lokalen Ausgaben und untersucht, wie die staatliche Sicht tatsächlich gelehrt und gelernt wird bzw. welchen Stellenwert die regionalen Alternativen jeweils haben. Dazu bedient er sich qualitativer Interviews, deren Ergebnisse im Detail zwar sehr aufschlussreich sind, denen aber – wie Rodgers selbst zugesteht – die Repräsentativität abgeht.

Dennoch leitet Rodgers aus ihnen den Schluss ab, dass es verschiedene regionale Varianten des Geschichtsbildes mit entsprechend unterschiedlichen Interpretationen vor allem der Geschichte des 20. Jahrhunderts gebe und der regionale Faktor folglich eine signifikante Rolle in der Bildungsreform spiele.

Besonders auffällig ist die Abweichung von der staatlich vorgegebenen Richtung bei der Haltung gegenüber Russland und den Russen. Hier machen sich als Faktoren die Grenznähe bemerkbar und die Tatsache, dass Russen historisch gesehen eine festen Bestandteil der Bevölkerung der Ukraine bilden, der weder als Diaspora noch als nationale Minderheit betrachtet werden möchte. Auf ihre nationale Identität hin befragt, zeigt sich bei diesen Leuten oft eine gemischte oder doppelte Selbstwahrnehmung, die sich letztlich auf eine regionale Identität zurückzieht. In diesem Fall ist dann das zur Selbstabgrenzung notwendige „Andere“ nicht Russland, sondern vielmehr der „Westen“. Rodgers zitiert Schülerinnen und Schüler mit dem aus ihrer Sicht angesichts der wahrgenommenen Tendenz des Unterrichts durchaus berechtigten Satz: „Warum sollen wir unsere Nachbarn hassen?“

Kleinere Mängel wie die lausige und daher kaum aussagekräftige Informationen liefernde Fotoqualität, die falsche Datierung des Vertrags von Perejaslav (nicht 1648, sondern 1654) oder die völlig nutzlose, weil über das ganze Buch unveränderte Kopfzeile sind formaler und zu vernachlässigender Natur. Wesentlich schwerer­wiegend und bedauerlicher ist in dem Buch das Fehlen des Vergleichs mit den westlichen Regionen der Ukraine. So aufschlussreich die detaillierte Analyse der drei Ostregionen ist, so sehr vermisse ich die unmittelbare Gegenüberstellung mit dem Westen. Es wäre interessant zu wissen, ob es auch dort einen transnationalen Regionalismus gibt, der eine positive Haltung gegenüber den westlichen Nachbarländern zulässt, oder ob dort in „rein ukrainischen“ Kategorien gedacht wird. Erst dann würde das durchaus nachvollziehbare Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung regionaler Aspekte seine volle Kraft entfalten können.

Jana Bürgers, Dobrá Voda u ČB

Zitierweise: Jana Bürgers über: Peter W. Rodgers: Nation, Region and History in Post-Communist Transitions. Identity Politics in Ukraine, 1991–2006. With a foreword by Vera Tolz. ibidem-Verlag Stuttgart 2008. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 80. ISBN: 978-3-89821-903-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 141-142: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Rodgers_Nation_Religion_and_History.html (Datum des Seitenbesuchs)