Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  471-472

David R. Marples Heroes and Villains. Creating National History in Contemporary Ukraine. Central European University Press Budapest, New York 2007. XXII, 363 S., 1Ktn. ISBN 978-9-639-77629-6.

Der Titel des vorliegenden Buches weckt große Erwartungen, die leider unerfüllt bleiben. Denn es geht nur um einen kleinen Ausschnitt der ukrainischen Geschichte, nämlich um eine Periode innerhalb des 20. Jahrhunderts. Gerade bei einem Land, das sich – sicherlich nicht zufällig – in der Präambel seiner Verfassung auf seine über 1000-jährige Geschichte beruft, hätte ich mehr Themen als nur die Hungersnot und Erscheinungen des Zweiten Weltkriegs erwartet. Marples, Professor an der University of Alberta in Kanada, rechtfertigt seine Auswahl damit, dass er die Zeit von Stalins Wirken (1928–1953) für die prägendste und tragischste Periode der Geschichte der Ukraine hält, die auch den größten Einfluss auf das gegenwärtige Denken über die moderne Nation und ihre Beziehung zur Vergangenheit habe. Durch die Unabhängigkeit von 1991 bestehe in der Ukraine nun die Notwendigkeit, eine neue nationale Geschichte zu konstruieren, die die bisherige sowjetische Geschichtsinterpretation ablösen könne, und die trotz regionaler, generationeller und ethischer Unterschiede von der ganzen Bevölkerung der Ukraine akzeptiert werden könne.

Marples hat sich zur Aufgabe gesetzt, diesen Prozess der Diskussion und Neukonstruktion einer (oder mehrerer) neuer nationaler Geschichten anhand zweier Großthemen nachzuzeichnen. Die beiden seiner Meinung nach wichtigsten und kontroversesten Ereignisse bzw. Perioden im 20. Jahrhundert seien die Hungersnot von 1932/33 und die Entwicklung des integralen Nationalismus, namentlich in Gestalt der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und der ukrainischen Aufstandsarmee (UPA). Er stellt die Frage danach, wie diese Ereignisse in der gegenwärtigen Ukraine dargestellt und interpretiert werden und welche Bedeutung sie für die Nationsbildung haben. Quellengrundlage für seine Untersuchung sind in erster Linie Artikel aus populären wie wissenschaftlichen Zeitschriften, Monographien sowie Schulbüchern von 1987 bis 2006.

Bereits im Literaturkapitel zeigt sich, wie abhängig die Interpretation der Ereignisse von der jeweiligen Perspektive ist. Ukrainer in der Diaspora argumentieren anders als sowjetisch sozialisierte, nun aber ‚unabhängig‛ schreibende Forscher, und die Herangehensweise westlicher Wissenschaftler ist nochmals eine andere. Bedauerlich ist, dass diese letzte Gruppe bei Marples allerdings nur durch die englisch-amerikanische Literatur repräsentiert wird, einzig die beiden deutschen Ukrainehistoriker F. Golczewski und W. Jilge werden mit zwei englischsprachigen Aufsätzen erwähnt. Bei einem Thema, das so viel mit der deutschen Geschichte zu tun hat, wäre die Hinzuziehung auch dieser Sichtweise sicherlich erhellend gewesen.

Erst Marples’ „Conclusion“ ist endlich das, was man das ganze Buch über vermisst: eine übersichtliche Zusammenfassung des Hungerproblems und der OUN-UPA-Jahre mit einer chronologischen Darstellung der wichtigsten Fakten, möglichen Gründe, verschiedenen Einflüsse und Erklärungen. Diese Übersicht bereits am Beginn des Buches hätte es wesentlich leichter gemacht, Marples bei der diskursanalytischen Lektüre des untersuchten Materials zu folgen.

Dass er sein Ziel – Beschreibung und Analyse des Interpretationswechsels und der Bemühungen um ein neues, für alle gültiges nationales Geschichtsbild – erreicht hat, möchte ich bezweifeln. Die Komplexität und Kontroversität der behandelten Themen kommen eher durch Unübersichtlichkeit seiner Darstellung und Untersuchung denn durch bündelnde Zusammenfassungen und erhellende Schlussfolgerungen zum Ausdruck.

Marples hat in diesem, seinem zwölften Buch, leider keine Lösung dafür gefunden, wie das Dilemma zu lösen ist, die Interpretationen umstrittener Themen so darzustellen, dass dem Leser und der Leserin klar wird, was die „historischen Fakten“, was die Interpretation des analysierten Autors und was der Kommentar des Analytikers dazu ist. Er verwischt Darstellung und Abhandlung bzw. scheint zu hoffen, dass sich die Besonderheiten automatisch aus der Darstellung ergeben. Das große Spektrum des behandelten Materials und sein Detailreichtum verpuffen so leider weitgehend ungenutzt.

Jana Bürgers, Dobrá Voda

Zitierweise: Jana Bürgers über: David R. Marples: Heroes and Villains. Creating National History in Contemporary Ukraine. Central European University Press Budapest, New York 2007. ISBN: 978-9-639-77629-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 471-472: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Marples_Heroes_and_Villains.html (Datum des Seitenbesuchs)