Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  423-424

Taras Kuzio Theoretical and Comparative Perspectives on Nationalism. New Directions in Cross-Cultural and Post-Communist Studies. With a foreword by Paul R. Ma­gocsi. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. 423 S., Tab. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 71. ISBN: 978-3-89821-815-3.

Ach, was hätte das für ein gutes Buch über die Ukraine geben können, wenn, ja wenn Kuzio sich die Mühe gemacht hätte, es auch wirklich zu schreiben! Statt dessen hat er 15 Aufsätze aus den Jahren 20002006 in einen dicken Sammelband gepackt und ihn allgemeiner überschrieben, als er tatsächlich ist – es geht nämlich fast immer um die Ukraine. Mal gibt’s Fußnoten, mal Literaturhinweise am Ende des Artikels, oft genug werden Aufsätze zitiert, ohne allerdings darauf zu verweisen, dass sie im selben Sammelband enthalten sind. Zu oft stolpert man über Rechtschreib- und Satzfehler, und über 423 Seiten darf man die gleiche Kopfzeile lesen – eine eigene pro Aufsatz hätte die Orientierung wesentlich erleichtert. Artikel sechs und sieben sind passagenweise identisch, insgesamt wiederholen sich Kernaussagen und Beispiele ziemlich oft.

Bücher, die Aufsätze eines Autors aus mehreren Jahren und Zeitschriften versammeln, können ein Gewinn sein, müssen es aber nicht. Im vorliegenden Fall drängt sich der Eindruck auf, dass Kuzio die Kompilations- und Destillationsarbeit lieber seinen Leserinnen und Lesern überlässt, als selbst tätig zu werden.

All das ist jammerschade, denn wie Magocsi im Vorwort ganz richtig konstatiert, hat Kuzio etwas zu sagen und er tut das auch. Er bezieht ganz klar Stellung, auch gegen anerkannte Forscher. Es macht Spaß, seine Abrechnungen zu lesen, seinen guten Argumentationslinien zu folgen und sich mitnehmen zu lassen in seine „new frameworks“. Auch wenn sie manchmal sehr weit hergeholt erscheinen, so erhellen die reichhaltigen Vergleiche mit anderen Ländern den Kontext wirklich erfreulich.

Jeder einzelne Aufsatz ist an sich meist wohl durchdacht, gut gegliedert und aussagen- bzw. thesenreich. Die Zusammenstellung und Gruppierung der Aufsätze hätte die Gliederung des Buches bereits vorgegeben: Theoretischer Einleitungsteil mit sehr kritischer Diskussion des Forschungsstandes, im zweiten Teil Darlegung der eigenen These, im dritten und vierten Teil dann die Anwendung und Ausarbeitung dieser These vor allem am Beispiel der Ukraine.

Teil I: Kuzio wendet sich bei seiner Kritik an Hans Kohn, Roger Brubaker und Will Kymlicka in erster Linie, vereinfacht gesagt, gegen deren Trennung in einen bösen, ethnischen Osten und einen guten, bürgerlichen (civic) Westen. Nicht alles, was national sei, müsse gleich als negativ nationalistisch abgetan werden, und nicht alles, was heute vorwiegend zivilgesellschaftlich daherkomme, sei schon immer frei von ethnisch-kulturellen Wurzeln. Zu oft würden Ost und West mit zweierlei Maß gemessen, so dass demokratische, zivile Bestrebungen im Osten ebenso wenig wahrgenommen würden wie ethnische Konflikte im Westen (z.B. Korsika, Basken, Nordirland).

Teil II: Im vierten, sehr übersichtlichen und anschaulichen Aufsatz stellt Kuzio sein Konzept der „quadruble transition“ vor. Der post-sowjetische Raum befinde sich im Umwandlungsprozess (transition). Bislang seien dabei meist nur die Themen Demokratisierung und Marktwirtschaft, bes­tenfalls noch der Staatsaufbau untersucht worden. Laut Kuzio müsse aber unbedingt als vierte Dimension die Nationsbildung mit einbezogen werden, da die nationale Identität substantiell wichtig für die Zivilgesellschaft sei.

In den folgenden drei Beiträgen erläutert er diese These am Beispiel der Ukraine und Weißrusslands. Leider wird man durch ständige Wiederholungen und immer gleiche Beispiele von den eigentlich außerordentlich differenzierten und kenntnisreichen Beobachtungen abgelenkt. Dabei zeigt Kuzio Verständnis für die Schwierigkeiten einer maßvollen Nationalisierung, macht an umfangreichem Material deutlich, warum das Analysewerkzeug anderer Nationalisierungsprozesse (Lateinamerika, 19. Jahrhundert) für den postsowjetischen Raum nicht ausreicht und hält ein Plädoyer für einen bürgerlichen Nationalismus, der geradezu notwendig sei für einen vollständigen Übergang.

Im dritten Abschnitt des Sammelbandes beschäftigt sich Kuzio mit Fallstudien zu einzelnen Ländern – jedenfalls laut Überschrift. Tatsächlich geht es letztlich immer um die Ukraine, mal um die russische Diaspora dort, mal um Russland als „das Andere“, von dem es sich abzugrenzen gilt, mal um die Rusynen in Transkarpatien.

Der letzte Teil handelt von dem Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Identitätsbildung. Zuerst analysiert Kuzio die zarische, sowjetische und westliche (ehrlicher wäre gewesen zu sagen: die englischsprachige) Geschichtsschreibung über Russland, besonders den Platz und die Rolle der Ukraine darin. Dann blickt er übersichtsartig auf die neue Geschichtsschreibung in den vier neuen Staaten Ukraine, Belarus, Moldova und Kasachstan und beschreibt deren Umgang mit dem sowjetischen und imperialen Erbe. Zum Schluss greift er sich gleich in zwei Aufsätzen die Epoche der Kiever Rus’ als Schauplatz für die Auseinandersetzungen verschiedener Historikerschulen heraus. Hier wäre die nähere Betrachtung eines weiteren umstrittenen Themas (z.B. Kosaken, Hungersnot) wünschenswert gewesen.

Dass neue Staaten sich auch eine ‚neue‛ Geschichte geben und der Rückblick auf die Vergangenheit der Identitätsbildung in der Gegenwart dient, ist dabei keine neue These. Interessant hingegen ist die Überlegung, dass auch Russland durch die Rückwirkungen aus den Nachbarländern gezwungen ist, seine bisherige (imperiale) Sicht auf die Geschichte zu überdenken und seinerseits eine eher national ausgerichtete Historiographie im eigenen Land zuzulassen.

Wirklich bedauerlich ist, dass so viel Potenzial verschenkt wird und in Nachlässigkeiten und Wiederholungen verpufft, denn eigentlich steckt der Sammelband voller guter Analysen, spannender Beispiele und anregender Thesen. Anstatt Beiträge aus ohnehin relativ leicht zugänglichen Zeitschriften zu kompilieren, wäre es ergiebiger gewesen, hätte Kuzio sich die Mühe gemacht, eine Monographie aus all den Einzeltiteln zu kreieren. Wenn er dann noch die Überschriften so gewählt hätte, dass sie auch wirklich beschreiben, was folgt, und nicht nur Allgemeinplätze umreißen, dann hätten wir ein richtig gutes, weitsichtiges, aktuelles und buntes Buch zum Thema Ukraine und Nation gehabt. Ja wenn …

Jana Bürgers, Dobrá Voda u Č.B.

Zitierweise: Jana Bürgers über: Taras Kuzio: Theoretical and Comparative Perspectives on Nationalism. New Directions in Cross-Cultural and Post-Communist Studies. With a foreword by Paul R. Magocsi. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 71. ISBN: 978-3-89821-815-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 423-424: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Kuzio_Theoretical.html (Datum des Seitenbesuchs)