Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 155-157

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Inna Klause: Der Klang des Gulag. Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er bis 1950er Jahre. Göttingen: V&R unipress, 2014. 691 S., 93 Abb. ISBN: 978-3-8471-0259-5.

Es ist ein beeindruckendes und (ge)wichtiges Werk, nicht nur was die Ausmaße angeht. Nein, in der Dissertation von Inna Klause steckt viel, fast zu viel, möchte man hinzufügen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, alle Facetten von Musik und Musikern im Gulag darzustellen, das heißt sowohl die Formen und den Kontext des Musizierens als auch die Einzelschicksale von Musikern zu behandeln. Dabei will sie einerseits die Rolle und Funktion des Musizierens unter den unmenschlichen Bedingungen im Lager, andererseits  auch die Zustände selbst schildern, um einer Verharmlosung des Lagerlebens unter dem Blickwinkel der Musik vorzubeugen. Und die Mengen der von ihr geborgenen und ausgewerteten Quellen möchte sie bei der Gelegenheit auch noch sichern. Der Autorin gelingt es tatsächlich, all diese Aspekte zu behandeln, leider zu Lasten der Übersichtlichkeit und der Auswertung aller Fakten.

Ihr Schwerpunkt liegt auf der „verordneten Musikausübung“ mit dem Ziel der Umerziehung und Disziplinierung der Häftlinge sowie der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Dafür nimmt sie die offizielle Umerziehungspolitik ebenso in den Blick wie das reale Theaterleben und die Laienkunstzirkel. Am Beispiel zahlreicher Einzelschicksale wird deutlich, wie selten Plan und Wirklichkeit tatsächlich übereinstimmten. Die Autorin konstatiert eine gute Quellenlage. Sie schöpft ihr reichhaltiges Material aus Erinnerungen, Interviews, literarischen Zeugnissen und den Archiven der Lager, wo offizielle Dokumente wie Verordnungen, Gesetze und die Lagerpresse zu finden sind.

Ihr Hauptaugenmerk richtet sie auf vier Lager: das Speziallager auf den Solovki, das Belbaltlag zum Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, das Dmitlag zum Bau des Moskau-Wolga-Kanals und das Sevvostlag im Gebiet der Kolyma, wo Gold gefunden worden war. Ein weiteres Kapitel widmet sich der selbstbestimmten und teilweise subversiven Musikausübung in der Untersuchungshaft, auf dem Weg ins Lager und dortselbst und das letzte geht der Frage nach, welche Bedeutung die Inhaftierung so vieler Instrumentalisten und Komponisten für das sowjetische Musikleben eigentlich hatte.

Leider werden dabei Arten der Quellen, Zeiten und Orte, Perspektive, Themen, Thesen, Funktionen und Hintergründe so vermischt, dass berührende Gedichte, kluge Schlussfolgerungen oder erschütternde Berichte unterzugehen drohen. Das zeigt sich schon beim Inhaltsverzeichnis, das allein sechs Seiten umfasst und damit kaum Orientierung bietet. Dazu kommt, dass einzelne Abschnitte oft mehr Aspekte umfassen, als die Überschrift anzudeuten vermag, und umgekehrt Themen, die man eigentlich an dieser Stelle erwartete, anderswo erscheinen. Die zusammenfassenden Abschnitte sind meist sehr kurz und nicht systematisch an jedem Kapitelende, sie stehen jedenfalls in keinem Verhältnis zu den sehr detailreichen Darstellungsteilen. Vor lauter Materialfülle verschwinden manch interessante Inhalte leider in den Fußnotenblöcken, die dadurch auch nicht übersichtlicher werden.

Warum es dennoch ein gutes und lesenswertes Buch ist? Wenn man sich die Mühe macht, die mehr als 600 Seiten durchzulesen, erfährt man unglaublich viel. Die Divergenz von Plan und Wirklichkeit des sowjetischen Systems (ob nun im zivilen oder im Lagerleben) ist als solche durchaus bekannt, bekommt aber plastische Konturen, wenn man beispielsweise einerseits von den von der Gulag-Verwaltung vorgeschriebenen ambitionierten Vorhaben für die Umerziehung der Sträflinge durch Kultur und Musik hört, andererseits aber auch von an den Mundstücken der Blechblasinstrumente festgefrorenen Lippen, wenn  zur Steigerung der Arbeitsproduktivität das Blasorchester bei -50°C zum Morgenappell aufzuspielen hatte. Trotzdem empfanden es die meisten Künstler als Privileg, in irgendeiner Weise künstlerisch tätig sein zu können. Hatte ein Cellist bei harter körperlicher Arbeit in eisiger Kälte einzelne Finger verloren, so wirkte er dennoch anschließend als Dirigent des Lagerorchesters.

Es waren ganz verschiedene Funktionen von Musik, die beide Seiten (Häftlinge ebenso wie Lagerverwaltung und Mitarbeiter) zur praktischen Musikausübung, aber auch zum Besuch von Theater und Konzerten bewegten. Für beide Gruppen bedeutete Musik Zeitvertreib und Ablenkung, sie konnte aber auch Ventilfunktion haben, um sich von aufgestauten Emotionen zu befreien. Für die Umerziehung ließ sich die Musik letztlich nur dahingehend missbrauchen, dass die Lagerverwaltung sie als Belohnung einsetzte, sei es für die Künstler selbst, denen gestattet wurde, ihr Instrument zu spielen oder auf einer Bühne zu stehen, sei es für den normalen Häftling, dem der Besuch eines Konzertes gewährt wurde. Dass eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, das Wecken patriotischer Gefühle oder die bessere Einhaltung der Lagervorschriften durch Musik erreicht worden wäre, bleibt laut Klause zweifelhaft. Als Prestigeobjekt für die Lagerleitung konnten funktionierende Musikgruppen jedoch immer dienen. Auf Seiten der Häftlinge hatte Musik noch mehr Funktionen, teilweise mit ganz unterschiedlichen Wirkungen. Während der Proben und Konzerte spürten manche den „Geruch der Freiheit“, der es ihnen ermöglichte, ihre Menschlichkeit auch unter den unmenschlichsten Bedingungen wenigstens zeitweise zu bewahren. So konnten Musik und Kultur Trost und Hoffnung spenden, bei anderen aber auch erst zu wirklicher Verzweiflung führen, wenn ihnen der Widerspruch zwischen dem Elend im Lager und der heilen Bühnenwelt als Repräsentant ihres früheren Lebens in Freiheit bewusst wurde. Besonders die selbstbestimmte Musik­ausübung, seien es die Gesänge der Gläubigen, die Blatnye-Lieder der Berufsverbrecher, oder der Politischen diente häufig der Besinnung auf die eigene Identität und Gruppenzugehörigkeit. Durch neue oder umgedichtete Lieder versicherte man sich seiner Herkunft, seiner Haltung und gab sich solchermaßen auch den anderen Gefangenen zu erkennen bzw. widerstand mehr oder weniger subversiv der erniedrigenden Behandlung als Häftling.

Es ist nicht so, dass Klause bei der Bearbeitung ihres Materials nicht auch interessante Erkenntnisse gewonnen und Thesen daraus abgeleitet hätte. Sie sind nur manchmal schwer zu finden und die Belege dafür sind über das ganze dicke Buch verstreut. Einer dieser Punkte betrifft das Verhältnis zwischen Häftlingen und der zivilen Bevölkerung im oder im Umkreis der Lager. Vor allem bei der Theaterarbeit begegneten sich gefangene und zivile Künstler; aber auch die Tatsache, dass oft Häftlinge vor zivilem Publikum zu musizieren hatten, brachte die beiden Gruppen in Kontakt. Schließlich kam es häufig vor, dass Musiker, die schon aus der Haft entlassen waren, weiterhin in der Region blieben und als Kulturträger fungierten. Klause schlussfolgert, dass solche Begegnungen zu einer besseren Akzeptanz der Lager in den jeweiligen Regionen geführt hätten, ja so manche Kulturinstitution in der Provinz ohne den „Nachschub“ aus den Lagern niemals ihre Arbeit und ihr Niveau hätte halten können. In ihren Augen waren die Lagertheater ausgesprochene Ausnahmeorte sowohl innerhalb des Lagers als auch für die Region und damit für Häftlinge wie Zivile gleichermaßen. Der Ausnahmecharakter bezog sich nicht nur auf die Behandlung der beteiligten Künstler, sondern auch auf das Programm. Klause vertritt die These, dass auf so mancher Bühne im Lager ein breiteres Repertoire von Musik und Liedern gespielt werden konnte als auf den zivilen „normalen“, aber eben von der offiziellen Ideologie bestimmten Bühnen.

Mithilfe der vielen Beispiele von Musikern in den Lagern widerspricht die Autorin der Annahme, dass es im Gegensatz zu Dichtern und bildenden Künstlern für Musiker einen „Schonungsbefehl“ gegeben habe. Klause führt im Gegenteil Beispiele an, wo offensichtlich bestimmte Musiker nur deshalb Opfer von vermeintlich willkürlichen Verhaftungen wurden, weil sie in Lagerorchestern fehlten. Generell plädiert Klause dafür, in der sowjetischen Musikgeschichtsschreibung auch all diejenigen nicht zu vergessen, deren Potential in den Lagern oder durch die Folgen der Haft verloren gegangen ist.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Inna Klause: Der Klang des Gulag. Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er bis 1950er Jahre. Göttingen: V&R unipress, 2014. 691 S., 93 Abb. ISBN: 978-3-8471-0259-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Klause_Der_Klang_des_Gulag.html (Datum des Seitenbesuchs)

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