Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 651-652

Verfasst von: Klaus Buchenau

 

Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Hrsg. von Joachim Bahlcke / Stefan Rohdewald / Thomas Wünsch. Berlin: Akademie Verlag, 2013. XXXIII, 1037 S., Abb. ISBN: 978-3-05-005658-6.

Was haben das antike Chersones auf der Krim, katholische Mariensäulen, Otto von Bamberg und der serbische Kosovo-Mythos gemein? Sie alle sind religiöse Erinnerungsorte, worunter die Herausgeber dieses voluminösen und teuren Sammelwerks „soziale Artefakte“ mit „Konstrukt-Charakter“ verstehen, die in ihrer Bedeutung „über den engen Primärkreis des Ursprungszeitraums räumlich und sozial hinausgehen und soziologisch faßbare [sic!] Wirksamkeit entfalten“ (S. XXII–XXIV). Die Begrifflichkeit haben die Herausgeber bei Pierre Noras Konzept der „lieux de mémoire“ entlehnt, wobei sie sich allerdings durchaus bewusst sind, dass dessen „ungeographischer“ Ortsbegriff dem alltäglichen Sprachverständnis zuwider läuft. Im Buch werden die Gedächtnisorte daher in basalere Kategorien unterteilt: 1. Stätten: Die geographische Dimension der Erinnerung; 2. Artefakte: Die gegenständliche Dimension der Erinnerung; 3. Menschen: Die personale Dimension der Erinnerung und 4. Kommunikate: Die ideelle Dimension der Erinnerung. Insgesamt werden 101 Erinnerungsorte in Beiträgen von jeweils etwa 8 bis 15 Seiten abgehandelt, ohne Fußnoten, aber mit hilfreichen Quellen- und Literaturverzeichnissen. Chersones steht somit exemplarisch für eine von insgesamt 27 behandelten Stätten, die Mariensäulen für eines von 21 Artefakten, Otto von Bamberg für einen von 35 Menschen, der Kosovo-Mythos für eines von 18 Kommunikaten. Für die Beiträge wurden ganz überwiegend renommierte Forscherinnen und Forscher gewonnen, das Niveau der Beiträge wie auch der technischen Umsetzung ist hoch, Druckfehler sind kaum feststellbar.

Ob das Werk deswegen selbst zu einem Erinnerungsort der Osteuropa-Historie wird, ist allerdings fraglich. Dem Rezensenten fiel das Lesen „am Stück“ oft schwer; obwohl ihn einzelne Artikel immer wieder in ihren Bann zogen, kämpfte er sich letzten Endes durch ein Nachschlagewerk, das nur entsprechend – d.h. artikelweise – mit Genuss gelesen werden kann. Wer sich Erkenntnisse über Erinnerungsorte als solche oder deren Besonderheit in Ostmitteleuropa erhofft hatte, muss dagegen weiter auf eine Synthese warten, die das Material weniger zergliedert, stärker auf Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erinnerungsorten eingeht und Vergleiche zieht. Die Problematik sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Der Beitrag von Paul Srodecki zum Antemurale christianitatis ist zweifellos solide und lesbar, steht aber aufgrund der Struktur des Bandes etwas verloren da. Dass viele Gesellschaften des östlichen Europas zwischen Vorstellungen einer Vorposten- und einer Brückenfunktion hin- und herschwankten, geht unter, weil der Artikel sich nur auf eine Seite festlegen darf. Um den Topos der Brücke zu erreichen, muss der Leser im Buch weit zurückblättern, etwa zum Artikel über Josip Juraj Strossmaier, den kroatischen Bischof und Politiker, der eine „kyrillomethodianische“, also auf die Zeit der Christianisierung zurückgehende Gemeinsamkeit zwischen katholischen und orthodoxen Südslawen betonte. Eine Klammer vermisst man auch zwischen den ansonsten sehr interessanten und gelungenen Darstellungen zu den Kirchenunionen von Marča (Bojan Aleksov / Zlatko Kudelić) und von Alba Iulia (Albert Weber) – dem Rezensenten fiel auf, dass erstere tief polarisierte historische Erinnerungen hinterließ, letztere dagegen eher nicht. Hintergründe und Erklärungen, die über die einzelnen Erinnerungsorte hinausgehen, liefert dieser Band aber nicht.

Etwas problematisch ist auch der Umgang der Herausgeber mit dem Thema Geographie. Orte schreien förmlich nach Kartographierung – das gilt selbst dann, wenn man Noras weiten Ortsbegriff zugrunde legt. Angesichts der ansonsten recht großzügigen Bebilderung bleibt unverständlich, weshalb sich in dem Band nicht wenigstens eine Karte zu Kapitel I – den Stätten – findet. Schwer nachvollziehbar ist auch die geographische Eingrenzung: Weshalb finden sich in einem Band über Ostmitteleuropa Beiträge zu Bosnien-Herzegowina und Bulgarien? Wenn man schon so weit auf den Balkan geht, wo bleiben dann griechische Beispiele? Und was ist der Ostmitteleuropa-Begriff überhaupt wert, wenn er Gebiete vom Baltikum bis nach Makedonien überspannen soll? Wie lässt sich angesichts des lockeren Verhältnisses zu Regionsbezeichnungen rechtfertigen, dass zwar der ukrainische und weißrussische, nicht aber der russische Raum Berücksichtigung fand? Insgesamt entsteht der Eindruck, dass hier der Raumbegriff an die Kompetenzen und Interessen eines Forschernetzwerks angepasst wurde – ein in pragmatischer Hinsicht verständlicher Schritt, der allerdings besser nicht Schule machen sollte. Anderenfalls sägen die Area Studies an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Profilierte Raumbegriffe jedenfalls bleiben wichtig, solange man in irgendeiner Form Besonderheiten des Raums behauptet – und das scheint hier durchaus beabsichtigt zu sein. Die Einleitung spricht davon, für das östliche Europa seien „konkurrierende, das heißt um gesellschaftliche Anerkennung wetteifernde, Erinnerungen“ charakteristisch wie etwa Gotteshäuser, die sich nacheinander oder gleichzeitig im Gebrauch verschiedener Glaubensgemeinschaften befanden (S. XXV). „Politische Manipulationen im Haushalt kollektiver Erinnerung scheinen im östlichen Europa häufiger und tiefgehender erfolgt zu sein als anderswo […]“, heißt es an anderer Stelle (S. XXIX). Dieser Ausgangspunkt erscheint plausibel, kann aber letztlich nur durch den Blick über das östliche Europa hinaus überprüft werden.

Bei den widerstreitenden Erinnerungen geht es den Herausgebern übrigens nicht um den Gegensatz zwischen „Wahrheit“ und „Manipulation“ – das weisen sie in kulturwissenschaftlicher Manier von sich. „Denn der Erinnerungsforschung ist es nicht um die Wahrheitsfrage im philosophischen Sinn zu tun (nach dem Motto: ‚Stimmt das auch, was hier erinnert wird?), sondern um die Modi der Wirksamkeit von Vergangenheit“ (S. XXI). Unter den Beiträgern gibt es allerdings durchaus solche, die sich an der Beziehung zwischen einem historisch mehr oder weniger fassbaren Kern und der Erinnerung daran abarbeiten, wie Kerstin S. Jobst über Chersones, Jiří Just über Jan Hus oder Al­fons Brüning über Petro Mohyla. Dem Rezensenten erscheint das als verdienstvoll – denn im Zeitalter von fake news gibt es wieder verstärkten Bedarf nach Arbeiten, die Manipulationen und verengte Deutungen offenlegen und auch kritisieren.

Klaus Buchenau, Regensburg

Zitierweise: Klaus Buchenau über: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Hrsg. von Joachim Bahlcke / Stefan Rohdewald / Thomas Wünsch. Berlin: Akademie Verlag, 2013. XXXIII, 1037 S., Abb. ISBN: 978-3-05-005658-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buchenau_Bahlcke_Religioese_Erinnerungsorte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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