Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 684-685

Verfasst von: Erich Bryner

 

Emily B. Baran: Dissent on the Margins. How Soviet Jehovahs Witnesses Defied Communism and Lived to Preach About It. New York: Oxford University Press, 2014. XVI, 382 S., 2 Ktn. ISBN: 978-0-19-994553-5.

Unter den religiösen Gemeinschaften, gegen welche die sowjetischen Behörden vorgingen, gehörten die Zeugen Jehovas (russ. egovisty) zu den hartnäckigsten und konsequentesten. Wie Emily B. Baran in ihrer gründlichen Untersuchung zeigt, waren sie wegen ihres amerikanischen Ursprungs, ihres Untergrund-Netzwerkes, ihres konsequenten Endzeitglaubens und ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Sowjetstaates besonders exponiert. Ihre Weigerung, Militärdienst zu leisten, an Abstimmungen teilzunehmen, sich der Kollektivierung der Landwirtschaft zu unterziehen, sich an offiziellen staatlichen Veranstaltungen zu beteiligen, ihre Kinder in die sowjetischen Jugendorganisationen zu schicken, veranlassten die sowjetischen Behörden zu massiven Eingriffen und Verfolgungsmaßnahmen. Die Zeugen Jehovas waren eine der komplexesten und am besten organisierten Untergrundorganisationen in der Sowjetunion. Für die Sowjetbehörden waren sie die reaktionärste, hartnäckigste und gefährlichste religiöse Gruppierung. Trotz aller repressiven Maßnahmen gelang es den Zeugen Jehovas in oft sehr beeindruckender Weise, Zusammenkünfte zu organisieren, Gottesdienste zu feiern, durch ihre von Haus-zu-Haus-Mission neue Mitglieder zu gewinnen, Bibeln und Zeitschriften (vor allem den Wachtturm) in Geheimdruckereien zu drucken, die Verbindung mit der Zentrale in Brook­lyn, New York, aufrechtzuerhalten und selbst unter den härtesten Bedingungen in Gefängnissen und im Archipel GULAG ihren religiösen Überzeugungen treu zu bleiben und diese weiter zu verbreiten. Die Verfolgungen ertrugen sie mit beispielloser Ausdauer: Je heftiger sie wurden, desto intensiver wuchs ihre Überzeugung, das Reich Gottes, eingeleitet durch die endzeitliche Schlacht von Harmagedon (einzige Erwähnung in der Bibel in der Offenbarung des Johannes 16,16), stehe unmittelbar bevor.

Als Gründungsdatum der Zeugen Jehovas gilt das Jahr 1870, als Ch. T. Russell bei Pittsburgh, P.A., unabhängige Bibelkreise gründete. Die Bewegung wuchs rasch. Versuche ihrer Anhänger, in Russland und in der frühen Sowjetunion Fuß zu fassen, scheiterten vollständig, doch in Polen, Rumänien (Bessarabien), in der Tschechoslowakei (Karpato-Ukraine) und in den baltischen Staaten entstand in der Zwischenkriegszeit eine Reihe von Gemeinden; Lódź und Lviv waren Zentren. Die Karpato-Ukraine besaß in der ganzen Sowjetzeit die größte Konzentration an Zeugen Jehovas. Als durch den Hitler-Stalin-Pakt 1939 große Gebiete Ostmitteleuropas von der Sowjetunion annektiert wurden, gab es Zeugen Jehovas zum ersten Mal in größerer Zahl auf sowjetischem Boden. Ihre Botschaft, das Königreich Gottes bringe Gerechtigkeit und Frieden, stieß dort in der Kriegs- und Nachkriegszeit auf ein großes Echo, insbesondere in ländlichen, wenig gebildeten und gesellschaftlich marginalisierten Kreisen, welche dann die meisten Anhänger stellten. Es gelang ihnen, alternative Gesellschaftsformen mit einem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl aufzubauen und sich dem Druck der Sowjetisierung zu entziehen. Die staatliche Gesellschaft sei von Satan verdorben; man dürfe mit ihr in keiner Weise zusammenarbeiten, sondern müsse sich von ihr grundlegend distanzieren und sich allein dem Gesetz Gottes unterwerfen. Die massiven Verfolgungen (polizeiliche Überwachung, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, langjährige Gefängnis- und Lagerstrafen) bestärkten die Zeugen Jehovas nur in der Richtigkeit ihrer Überzeugungen und machten sie umso resistenter.

Die Verfasserin geht in ihrer Untersuchung chronologisch vor, möchte aber nicht einfach die äußeren Ereignisse nachzeichnen, sondern verstehen, welches die inneren Beweggründe der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion und die Motive der sie verfolgenden Behörden waren. Im ersten Kapitel skizziert sie die Vorgeschichte bis 1939, im zweiten stellt sie das religiöse Leben der Gläubigen und die staatlichen Verfolgungen in der späteren Stalinzeit (1945–1953) dar. Obwohl Stalins Religionspolitik in diesen Jahren relativ tolerant war, erlitten die Zeugen Jehovas die strengsten Verfolgungen. Unter dem Motto Divide et impera wird in den folgenden Kapiteln der Kampf der Sowjetbehörden gegen die Religion analysiert. Während es den etablierten Kirchen und Religionsgemeinschaften einigermaßen gelang, durch Verhandlungen, Entgegenkommen und Kompromisse ihre Existenz legal zu sichern, hatten die Zeugen Jehovas weiterhin unter strengster Verfolgung zu leiden, da sich ihr Leben und Wirken stets durch Prinzipientreue und Kompromisslosigkeit auszeichnete und ihr Glaube keine Zugeständnisse zuließ. Die Zeugen Jehovas bildeten jeweils eine der größten Kategorien von politischen Gefangenen im Archipel GULAG. In der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzte im Rahmen der Perestroika ein Legalisierungsprozess für Dissidenten ein; die Zeugen Jehovas blieben nicht zuletzt wegen ihrer konsequenten Militärdienstverweigerung unter Generalverdacht. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 zählte die Bewegung rund 45.000 Mitglieder bei einer Gesamtbevölkerung von 290 Mio. Einwohnern. Die Darstellung von Emily Beran schließt mit einem Kapitel über die Zeit zwischen 1991 und 2010. In diesen Jahren konnten die Zeugen Jehovas von der allgemeinen Religionsfreiheit profitieren, in der Russländischen Föderation erfuhren sie jedoch durch das Religionsgesetz von 1997 wieder Einschränkungen; die Russische Orthodoxe Kirche betrachtet jede Konvertitenmacherei als unerwünscht und bekämpft sie energisch. 2010 betrug die Zahl der Zeugen Jehovas in den ehemaligen Sowjetrepubliken rund 380.000 Mitglieder.

Die Absicht, die Beweggründe sowohl der Zeugen Jehovas als auch der sowjetischen Behörden zu deren Verfolgung von innen her zu verstehen, ist der Verfasserin sehr gut gelungen. Sie bietet in ihrer Untersuchung einen umfassenden, zuverlässigen und gut reflektierten Einblick in das Leben und Wirken der Gläubigen und die Aktionen ihrer Verfolger. Intensive Forschungen in den Archiven Russlands, der Ukraine und Moldawiens, insbesondere in den Lokalarchiven von Lviv und Užhorod, förderten eine Menge unbekannten und wertvollen Materials zu Tage; oft glich die Suche nach Nachrichten über die Zeugen Jehovas, wie die Verfasserin selber einmal schreibt, der Suche nach einer Stecknadel in einem Heuhaufen. Das Buch bietet einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Themenbereiche Religionsfreiheit, Menschenrechte, Dissidenz und Kampf der Behörden gegen sie in der Sowjetunion und wird als Fallstudie weit über den engeren Themenbereich hinaus auf Interesse stoßen.

Erich Bryner, Schaffhausen

Zitierweise: Erich Bryner über: Emily B. Baran: Dissent on the Margins. How Soviet Jehovah's Witnesses Defied Communism and Lived to Preach About It. New York: Oxford University Press, 2014. XVI, 382 S., 2 Ktn. ISBN: 978-0-19-994553-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bryner_Baran_Dissent_on_the_Margins.html (Datum des Seitenbesuchs)

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