Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band , S.  

Michail A. Babkin (Hrsg.) Rossijskoe duchovenstvo i sverženie monarchii v 1917 godu. Materialy i archivnye dokumenty po istorii Russkoj pravoslavnoj cerkvi. Sost., avtor predisl. i kommentariev M. A. Babkin. 2-oe izd. Izdat. Indrik Moskva 2008. 632 S., Abb. ISBN: 978-5-85759-444-5 .

Dieser breit angelegte Quellenband ist den politischen Stellungnahmen und Reaktionen der Geistlichkeit der Russischen Orthodoxen Kirche auf den Zusammenbruch der Monarchie in der Februarrevolution 1917 gewidmet. Die aus den Archiven erarbeitete Dokumentation ist in acht Hauptteile gegliedert; dazu kommen umfangreiche Anhänge, Register und 43 Illustrationen. Der erste Teil bringt die Verordnungen, Beschlüsse und Sendschreiben des nach der Revolution neu konstituierten Heiligen Synods unter der Leitung von V. N. L’vov, Auszüge aus den Predigten von Hierarchen, soweit sie von po­litischer Relevanz sind, sowie Zirkulare der kirchlichen Behörden. Die Dokumente zeigen eindrücklich, wie rasch sich die Politik der Kirche den neuen politischen Gegebenheiten angepasst hat, aber auch, wie groß die Erleichterung über das Ende der Monarchie war. Erzbischof Arsenij (Stadnickij) von Novgorod brachte die Stimmung der Kirchenverantwortlichen auf den Punkt, als er in der ersten Sitzung des Synods nach dem politischen Umsturz spontan auf die Eröffnungsrede des Oberprokurors „Das Ende des Caesaropapismus“ reagierte: „Der Herr Oberprokuror spricht von der Freiheit der Kirche. Welch wunderschönes Geschenk! […] Zweihundert Jahre verharrte die orthodoxe Kirche in der Knechtschaft. Jetzt wird ihr die Freiheit geschenkt. Gott, welche Frei­heit!“ (S. 54) Andere Hierarchen interpretierten den Zusammenbruch der Monarchie als Gericht Gottes; Gott habe Zar Nikolaj II. verworfen wie in alttestamentlichen Zeiten König Saul von Israel; der Wille Gottes sei geschehen. Viele Stimmen begrüßten die neue Ära und stellten umfangreiche Reformen, die baldige Einberufung des längst geplanten, aber vom letzten Zaren verhinderten Landeskonzils und eine breite Beteiligung aller orthodoxen Gläubigen am kirchlichen Leben im Sinne der sobornost (Konziliarität) in Aussicht. Die Provisorische Regierung wurde sofort als rechtmäßig anerkannt, da sie von der Duma eingesetzt worden war, und dies wurde mit den bekannten Wor­ten des Apostels Paulus „Es ist keine Obrigkeit außer von Gott“ (Röm. 13,1) theologisch untermauert. Zahlreiche Dokumente zeigen die Än­derungen im kirchlichen Leben, die sofort in die Hand genommen wurden. Dies begann mit Anpassungen in den gottesdienstlichen Büchern, in denen die früheren Fürbitten für den Zaren und die Zarenfamilie sofort durch die Formel „für das von Gott beschützte russische Reich und seine gottesfürchtige Provisorische Regierung“ ersetzt werden mussten. (Faksimile-Abdrucke auf der ersten und letzten Umschlagseite; vollständige Aufzählung der Textänderungen S. 430–433). Entsprechend mussten die Amtseide bei der Einsetzung von Staatsbeamten, Bischöfen, Priestern und Diakonen geändert werden. Die Gläubigen wurden in unzähligen Verlautbarungen und geistlichen Ermahnungen dazu aufgerufen, die Provisorische Regierung anzuerkennen, ihre Anweisungen zu befolgen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Nur vereinzelt gab es monarchiefreundliche Stimmen, welche die alte Staatsordnung verteidigten und auf einen neuen Zaren hofften.

Der zweite Teil der Dokumentation gilt den Resolutionen, welche die neugewählten Kongresse der orthodoxen Geistlichen und Laien, die neu gebildeten kirchlichen Basisorganisationen, beschlossen. Auch sie interpretierten den politischen Umsturz als Handeln von Gottes Vorsehung und begrüßten die Demokratie als neue Staatsform. „Eine Rückkehr zur alten, despotischen und klerikal-bürokratischen Ordnung ist nicht möglich […]. Die orthodoxe Kirche muss frei sein.“ (S. 155) Das kirchliche Leben müsse nach den Grundsätzen von Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit, von Liebe und Freiheit, nach dem theologischen Prinzip der sobornost aufgebaut werden. Für die Stimmung dieser kirchlichen Basiskreise sind auch die Stellungnahmen gegen die Bol’ševiki interessant, die als „Feinde unseres Vaterlandes“ bezeichnet wurden (S. 190). Zahlreiche Stimmen hielten fest, dass die Kirche in ihren inneren An­gelegenheiten völlig selbständig sein müsse, eine Trennung von Staat und Kirche jedoch nicht in Frage komme und der orthodoxen Kirche der erste Rang unter den Religionsgemeinschaften Russlands zustehe; das Oberhaupt des Staates müsse orthodoxen Glaubens sein.

Im 3. und 4. Teil werden Telegramme kirchlicher Institutionen an die obersten Regierungsverantwortlichen wiedergegeben. Auch sie vermitteln Einblicke in die allgemeine Stimmung in den Kirchenkreisen: Auf Schritt und Tritt spürt man die Erleichterung, die das Ende der Zarenherrschaft auslöste, und die Begeisterung, mit der die neue Ära, „die Morgenröte eines neuen christlichen Lebens der russischen Kirche und des Vaterlandes“ (S. 241), begrüßt wurden. Man freute sich über die Befreiung vom Druck des alten Regimes, hoffte auf eine gute Zusammenarbeit aller politischen Kräfte, insbesondere zwischen der Provisorischen Regierung und dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, und man sah mit großen Erwartungen dem Landeskonzil entgegen, das einen vollständigen Umbau des gesamten kirchlichen Lebens „im Geiste der apostolischen Gebote und der Prinzipien der sobornost, der wahren Freiheit und brüderlichen Liebe in Christus“ (S. 273) bringen sollte. Bischöfe, die der alten Ordnung anhingen, „reaktionäre Aktivisten“ waren, sollten abgesetzt werden.

Von großem Interesse sind die Appelle, Aufrufe und Telegramme von Gemeindeklerikern an ihre Amtskollegen und an ihre Kirchenglieder, die Briefe, Zirkulare und Telegramme von Laien an die weltlichen und kirchlichen Behörden und das ganze Volk (Teile 5 und 6). Dabei wurden auch unbequeme Fragen gestellt: Wie glaubwürdig ist eine Kirche, die gestern die Zarenmacht und heute plötzlich eine andere Regierung als von Gott eingesetzt proklamiert? Welche Obrigkeit ist nun von Gott und welche vom Teufel? (S. 387) Im 7. Teil werden die neu geschaffenen Texte für die Vereidigung von Staatsbeamten und Kirchenbediensteten geboten. Für einige Aufregung in der Kirche sorgte die Erscheinung der Ikone „Božiej Materi Der­žav­naja“ im Dorf Kolomenskoe bei Moskau am Tag vor der Abdankung des Zaren (Teil 8, Bild 36). In den Anhängen werden weitere Dokumente zu den Teilen 1, 2, 4–6 abgedruckt, die für die Differenzierung der Thematik sehr wertvoll sind.

Babkin bringt in diesem Quellenband eine Fülle von Materialien aus zahlreichen Archiven und von gedruckten Quellen, darunter aus vielen Lokalzeitungen. Die Dokumente sind ausführlich und historisch zuverlässig kommentiert. Sie vermitteln tiefe und zum Teil auch neue Einsichten in die Kirchen- und Sozialgeschichte Russlands von der Februarrevolution bis weit in den Sommer 1917 hinein. Besonders begrüßenswert ist die Tatsache, dass nicht nur amtliche Verlautbarungen, sondern auch sehr viele Stimmen von der Basis vermittelt werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich viele Wiederholungen finden, doch häufig sind darin auch wertvolle Nuancen enthalten. Künftige Forschungsarbeiten über die russische Geschichte 1917 werden um diese Quellensammlung nicht herumkommen.

Erich Bryner, Schaffhausen

Zitierweise: Erich Bryner über: Michail A. Babkin (Hrsg.): Rossijskoe duchovenstvo i sverženie monarchii v 1917 godu. Materialy i archivnye dokumenty po istorii Russkoj pravoslavnoj cerkvi. Sost., avtor predisl. i kommentariev M. A. Babkin. 2-oe izd. Izdat. Indrik Moskva 2008.ISBN: 978-5-85759-444-5 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, , S. : http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bryner_Babkin_Rossijskoe_duchovenstvo.html (Datum des Seitenbesuchs)