Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 307-310

Verfasst von: Alfons Brüning

 

Martin Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und der russisch-orthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern bzw. in Russland 1848–1922. München: Oldenbourg, 2011. 343 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 123. ISBN: 978-3-486-70662-8.

Revolution und religiöser Dissens, ist ein wohl sehr aktuelles Thema. Martin Schulze Wessel legt hier eine Studie vor, die auf der Grundlage seiner schon 2002 eingereichten Habilitation angefertigt wurde, aber hinsichtlich Literatur und Methodik durchweg auf dem aktuellen Stand ist (was in Sachen Methodik wohl noch zusätzlich für die Qualität der ersten Version spricht). Das Buch bedeutet ein in mehrfacher Hinsicht innovatives Unternehmen, und das Unternehmen ist gelungen.

Der Autor vergleicht die innere Entwicklung der katholischen Kirche in Böhmen und der Tschechoslowakischen Republik ab 1918 mit derjenigen der russischen orthodoxen Kirche im späten Zarenreich und den frühen Jahren der Sowjetunion. Dass es in diesem Zeitraum etwas zu vergleichen gibt, ist offenkundig. Bereits in der Revolution von 1848 hatte sich im tschechischen katholischen Klerus eine breite Bewegung formiert, die den einfachen Geistlichen aus dem Schatten des Episkopats und aus gesellschaftlicher Isolierung lösen wollteeines Episkopats, der mehrheitlich als Exponent habsburgischer, josephinisch-staatskirchlicher Fremdherrschaft wahrgenommen wurde. Einher mit den Reformbestrebungen ging schon damals die allmähliche Formulierung eines alternativen Priesterbildes, das mehr auf einen Lehrer und moralischen Erzieher in einer enger mit der national verstandenen Gesellschaft verflochtenen Kirche hinauslief und sich vom alten, über sakrale Funktionen definierten Verständnis zu lösen suchte. National-tschechische Töne waren schon hier wichtig, und wurden es erst recht in der Abspaltung einer tschechischen Nationalkirche nach 1918, hervorgegangen aus der bereits in der ersten Revolution gegründeten reformorientierten PriestervereinigungJednota. In ähnlicher Weise erlebte die russische Orthodoxie im Zarenreich, kulminierend in der Revolution von 1905, eine breite Diskussion unter Priestern, Bischöfen und Laien über die Rolle der Kirche in der Gesellschaft, ihre innere Struktur und das Idealbild des Geistlichen, diemit den bekannten Zwischenhalten und Umwegensowohl auf die Reformen des Moskauer Landeskonzils von 1917/18 als auch auf die Abspaltung derErneuerer-Kirche ab 1922 voraus wiesen. In beiden Fällen standen am Ende auch radikale Alternativkirchen, die augenscheinlich ihren Weg einer Überbrückung des alten Gegensatzes von Kirche und Gesellschaft, und damit in theologischer Hinsicht von saeculum und Gottesdienst, nur noch getrennt von der Mutterkirche gehen zu können glaubten, und zugleich weit auf den Staat zugingen. Es ist vor allem dieser Aspekt von Säkularisierung als einer Überbrückung des genannten Gegensatzes, der Schulze Wessel auch auf abstrahierter Ebene interessiert. Die Einleitung rekapituliert dementsprechend den Stand der intensiven Diskussion der letzten Jahre um Säkularisierung und Modernisierung: Die alte Formel von Hand in Hand gehender Modernisierung und Säkularisierung, die Kirche und Religion quasi automatisch hinter sich lässt und an den gesellschaftlichen Rand verweist, hat ausgedient. Ein genauerer Blick auf die historische Entwicklung ist es demnach, der zu Alternativkonzepten und zu einem besseren Verständnis helfen muss. Das gilt durchaus nicht nur für das lateinische Christentum im europäischen Westen. Eine Innovation besteht nun bereits darin, dass der Autor einen Vergleichszusammenhang zwischen zwei nicht nur konfessionell, sondernwie man immer noch oft meintauch kulturell verschiedenen Kirchen desWestensundOstensherstellt. Der erste Gewinn besteht somit in dem impliziten Nachweis, dass es hier viel Vergleichbares gibt, und die scheinbar so bedeutsame Ost-West-Grenze nach Huntingtonschem Muster methodisch ignoriert werden darf.

Die Studie versteht sich, wie es der programmatische Einleitungsteil formuliert, alsein Vergleich, der, ausgehend von dem Problem der Beziehungen zwischen Staat und Kirche, den Klerus als Bewegung mit seinen Wertebezügen untersucht und dabei einen Aufschluss über den Zusammenhang von religiösen und säkular-weltanschaulichen Diskursen zu gewinnen versucht.Betrachtet werden unter diesem Gesichtspunkt in vier großen Kapiteln nacheinander die Revolution von 1848 in den böhmischen Ländern, die russische Revolution von 1905, die Revolution von 1918 und der Weg zum Schisma der Tschechischen Kirche sowie die Revolution von 1917 bis zur Abspaltung derLebendigen Kirche1922. In allen Kapiteln wird ein eingangs entwickeltes Vergleichsraster durchgehalten, das den Blick aufReligion und Politik,EpiskopatKlerusStaat,Marginalisierung und Selbstentwurf des Klerus,Nationalisierung der Liturgie,Ethni­sierung des religiösen Konfliktsund schließlich aufErinnerung und Religionrichtet. Ein weiteres Kapitel widmet sich gesondert der kritischen Auswertung von Umfragen als Indikator und Faktor religiösen Wandels: Sowohl der Hl. Synod in Russland 1905, als auch der Priester und Aktivist der reformorientiertenJednota-Vereinigung Bohumil Zahradnik-Brodsky in der Tschechoslowakei Ende 1918 veranstalteten umfangreiche Fragebogenaktionen, um die Stimmung unter dem Klerus hinsichtlich der diskutierten Reformanliegen zu ermittelnAktionen, die jeweils nicht allein dem ausgewiesenen Ziel dienten, sondern auch je spezifische Formen von Öffentlichkeit herstellten, freilich in den verglichenen Fällen in je unterschiedlicher Weise.

Anhand des einmal eingeführten Vergleichsrasters thematisiert das Buch nun Diskussionen und innere Entwicklungen innerhalb der jeweiligen Kirchen. Ausgangslage ist in allen Fällen eine in den Augen der Reformer zu enge Verflechtung von Kirche und Staat in den beiden Großreichen, verbunden mit der Vorstellung eines durch die Reformen Josephs II. in Habsburg oder Peters I. in Russland geschaffenen Staatskirchensystems. Nur in Böhmen führte aber diese Abwehr zu einer deutlicheren Frontstellung der niederen Geistlichkeit zu denauch ethnisch als fremd, da deutsch dominiert empfundenenBischöfen, während man in Russland vor und um 1905 nicht nach einer Revolution, sondern nach einer Wiederherstellung des kanonischen Zustands rief. Das aber bedeutete, dass die Fronten zwischenkonservativundmodernisierendnicht allein zwischen oben und unten verliefen. Immerhin konnte auch in Russland der für die orthodoxe Kirche bedeutsame Gegensatz zwischenweißemGemeindeklerus undschwarzem“, aus dem Mönchtum rekrutiertem Episkopat thematisiert werden, indem hier erstmals Forderungen nach Zugang auch der verheirateten Gemeindepriester in die höheren Leitungsebenen der Kirche erhoben wurden. Deutlicher sind die Parallelen demgegenüber noch in den Entwürfen eines neuen Priesterbildes, mit dem auf die sowohl in Böhmen ab 1848 als auch in Russland vor 1905 diagnostizierte Abtrennung der Geistlichen von der Gesellschaft geantwortet wurde. In beiden Fällen wurde das Leitbild quasi modernisiert und in gewisser Weise säkularisiertindem nämlich die Akzente von einem sakralen Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits hin zu pädagogischen und moralischen Funktionen auch für die (einmal nationale und demokratische, ein andermal demokratische und sozialistische) Gesellschaft verschoben wurden. Mit der Neubetonung einer öffentlichen Funktion der Geistlichkeit ging eine Diskussion um Einzelheiten von Lebensweise und äußerer Erscheinung einher. Zum Ziel der Debatten wurde vor allem in Böhmen das Zölibat, das sowohl moralisch in Misskredit geraten war (weil von einem Großteil der Pfarrer offenkundig nicht eingehalten) als auch als Institution in Frage stand, da es den Graben zur Gesellschaft vertiefte. In der Orthodoxen Kirche Russlands waren hier die Voraussetzungen natürlich anders, aber auch hier beanspruchte der Klerus neben politischen Funktionen bürgerliches Recht für sich: Zur Debatte stand das Heiratsgebot für Gemeindepriester, und das Verbot der Wiederheirat für verwitwete Priester. Denn, so hieß es, auch hier sei das Selbstbestimmungsrecht der Priester letzten Endes eingeschränkt, und die bestehenden Gebote implizierten überdies eine Herabsetzung der Ehe an sich, als allenfalls einnotwendiges Übel, dem der asketische Weg immer überlegen sei. Stets suchten reformorientierte Priesterin beiden Fällendie Öffentlichkeit und die Errichtung öffentlicher Organisationsstrukturen, wenngleich die eher kleine und anonyme Gruppe der32 Priesterin St. Petersburg um die Jahrhundertwende natürlich nicht den Stellenwert der tschechischenJednotaerreichte. Neben die Organisation trat aber die Publizistik: Reformorientierte Zeitschriften gaben in beiden Fällen reichlich Raum für Stellungnahmen, Protest und Verbesserungsvorschläge. Die zahlreichen einschlägigen Artikel bilden zu Recht eine der wichtigsten Quellengrundlagen der vorliegenden Studie. Es macht weiterhin eine Stärke des Buches aus, das neben der durch den Vergleich zuerst naheliegenden sozialgeschichtlichen Methodik auch Instrumentarien etwa der Genderforschung (in der Analyse der Zölibatsdebatten) oder historischer Memoria als Teil der neueren Kulturgeschichte zur Anwendung kommen. Im UnterkapitelErinnerung und Religionwerden die jeweiligenErinnerungsorteund historischen Bezugnahmen in den Reformargumentationen thematisiertfreilich mit dem Ergebnis, dass die wichtigsten lieux de mémoire ambivalenten Charakter hatten. So war die national-demokratische, gleichwohl christliche Symbolfigur Jan Hus für Vertreter der katholischen Geistlichkeit natürlich problematisch, besonders in der antiklerikalen, durch den Sturz der Prager Mariensäule manifestierten Stimmung nach 1918. In ähnlicher Weise konnte die Forderung nach einer Wiederherstellung des vorpetrinischen Patriarchats in Russland sowohl im Sinne einer auch hinsichtlich ihrer inneren Strukturen freieren Kirche als auch im Sinne einer Stärkung bischöflicher Autorität bemüht werden (hier bestehen allerdings wiederum Parallelen zur Kritik am Staatskirchentum in Böhmen ab 1848).

Die vergleichend angelegte Studie erliegt dennoch im Ganzen nirgends der Versuchung deswer sucht der findet. Wo Unterschiede auftauchen, werden sie benannt und kritisch bewertet. Im Ganzen aber finden sich entlang des erwähnten Rasters stets letzten Endes vergleichbare, wenn auch selten identische Muster. Zentral ist dabei die immer wieder reflektierte Spannung zwischen einem sakramental-asketischen und einem gesellschaftlich engagierten Kirchen- und Klerusideal. (Nur einmal, hinsichtlich derEthni­sierung des religiösen Konflikts“, wirkt für den russischen Fall der Verweis auf die Formierung nationalkirchlichen Bewusstseins der Ukrainer in dieser Zeit etwas bemühtnicht weil er nicht stimmt, sondern weil er kaum einen der böhmischen, national orientierten Parallele entsprechenden Mainstream wiedergibt.) Die so unter der Oberfläche erkennbaren Parallelen machen das Fazit des Autors überzeugend: Die untersuchten Beispiele aus dem Rahmen vonRevolution und religiöser Dissenssind, allen Nuancen im Einzelnen zum Trotz, als Beiträge zu einer in der christlichen Religionsgeschichte wohl wiederholt versuchten Neudefinition des Verhältnisses zwischen Jenseits und säkularer Welt zu werten, aus dem sich ergeben kann, was als Säkularisierung besprochen wirddiese ist aber nicht zu reduzieren auf Jakobinertum, radikale Entkirchlichung und Antiklerikalismus.

Kritisch sind dem Rezensenten nur zwei Punkte aufgefallen. Vielleicht hätte nämlich die russische Reformdebatte in der ersten Phase zwischen 1861 und 1880 etwas mehr als nur ein paar Seiten verdient. Im Buch kommt sie so vielleicht zu kurz, auch wenn Titel der hierzu einschlägigen Literatur im Verzeichnis auftauchen. Tatsächlich waren schon da, zudem wohl nicht nur im hier genannten Erinnern an die Traditionen der Altgläubigen, alle angesprochenen Kritiken und Reformbestrebungen präsent, und dies in größerer zeitlicher Nähe zum tschechischen Vergleichsfall nach 1848. Das ThemaRevolution und religiöser Dissensbeginnt auch in Russland nicht erst um 1900. Zweitens, und das betrifft den theoretischen Rahmen der Säkularisierung: Die in den letzten Jahren viel diskutierten Beiträge Charles Taylors zu diesem Komplex werden nicht erwähnt, obwohl man fast annehmen möchte, dass sie die Sympathie des Autors gefunden hätten. Grundsätzlich bedeutsam sind solche Kritikpunkte freilich nichtwie gesagt, das innovative Unternehmen dieses Vergleichs ist durchweg gelungen, und man kann nur hoffen, dass eine solche Studie hinsichtlich Konzept wie Qualität kein Einzelfall bleibt.

Alfons Brüning, Nijmegen

Zitierweise: Alfons Brüning über: Martin Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und der russisch-orthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern bzw. in Russland 1848–1922. München: Oldenbourg, 2011. 343 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 123. ISBN: 978-3-486-70662-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bruening_Schulze_Wessel_Revolution_und_religioeser_Dissens.html (Datum des Seitenbesuchs)

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