Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Alfons Brüning

 

Joachim Bahlcke (Hrsg.) Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa. Berlin [usw.]: Lit Verlag, 2008. 440 S. = Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa, 4. ISBN: 978-3-8258-6668-6.

Forschungen zur Migration im frühneuzeitlichen Europa konzentrierten sich lange Zeit – das wird auch im vorliegenden Band in der Einleitung von Joachim Bahlcke vermerkt – vor allem auf die nach 1685 aus Frankreich vertriebenen Hugenotten sowie auf die 1731–1732 vertriebenen Salzburger Protestanten. Zusammen mit Heinz Schillings Studien zu den niederländischen Exulanten des 17. Jahrhunderts gibt es zum Geschehen im westlichen Europa bereits eine sehr umfangreiche Literatur. Im vorliegenden Band kommen nun einige Regionen Ostmitteleuropas in den Blick, die im fraglichen Zeitraum ebenfalls nicht unerhebliche Wanderungen gesehen haben, sei es als Vertreibungsgebiete (vor allem Böhmen nach 1620, Schlesien und – in gewissem Umfang – Polen nach 1650), sei es als Aufnahmegebiete für die Flücht­linge (so etwa Großpolen vor ca. 1650, Kursachsen oder Siebenbürgen).

Nun hat man von den angesprochenen älteren Studien bereits einiges lernen können über die sowohl politischen wie religiösen Motive der ausweisenden Regierungen und über die Schwierigkeiten, denen die Emigranten an ihrem neuen Niederlassungsort begegneten – Schwierigkeiten, die in der Hauptsache mit ökonomischen und sozialen Faktoren, unerwünschter Konkurrenz oder einseitiger Bevorzugung durch landesherrliche Privilegien etc. zu erklären sind. Ebenso ist bekannt, dass das Hauptinteresse der im Exil konstituierten Gemeinden, die Wahrung ihrer sowohl landsmannschaftlichen als vor allem konfessionellen Identität in einem oft andersartigen Umfeld, per se freilich weniger Konflikte generierte, als man ursprünglich annahm. Ferner weiß man, dass die Landesherren, die den anderswo Vertriebenen Zuflucht gewährten, dies nur höchst selten aus jener brüderlichen Nächstenliebe taten, die – ob nun in Brandenburg oder in den Niederlanden – in den entsprechenden Verlautbarungen und Einladungen ihrer Kanzleien so auffällig formuliert wurde.

Entsprechendes rekapituliert im vorliegenden Band der instruktive Überblick von Barba­ra Dölemeyer über „Rechtliche Aspekte konfessioneller Migration“. Von Seiten des Landesherren wurde die Rechtsform des Privilegs in aller Regel bevorzugt. Die Erwartungen der Landesherren auf ökonomischen Zuwachs haben sich freilich nirgends erfüllt – wenigstens nicht kurzfristig, während auf lange Sicht zumindest von größeren Ansiedlungen doch merkliche ökonomische und kulturelle Impulse ausgingen.

Nun muss sich der vorliegende Sammelband daran messen lassen, wieviel Neues die hier zusammengestellten Studien zu den bekannten Aspekten hinzufügen können. Alles in allem ist das einiges. Freilich, die bisherige Forschung Umstürzendes entnimmt man den Aufsätzen nicht. Es entsteht eher der generelle Eindruck, dass Beobachtungen, die bisher für das westliche Europa gemacht wurden, mutatis mutandis auch für Ostmitteleuropa zutreffen, was ja per se schon ein erwähnenswertes Ergebnis ist. Und es bleibt auch keineswegs dabei. Das Phänomen der Migration wird mit seinen vielen Facetten – aus der Sicht der Obrigkeit und der „Exulanten“, über große und kleine Räume und Zeiträume hinweg etc. – beleuchtet. Mehr als einmal fügen die durchweg qualitativ hochstehenden, meist auf eigenen Quellenstudien beruhenden Beiträge dem Gesamtbild des Phänomens ‚Migration im frühneuzeitlichen Europa‘ einen neuen Aspekt hinzu. Zu bedauern ist allerdings, dass die Publikation der Beiträge ungewöhnlich lange auf sich warten ließ. Sie gehen auf eine Tagung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Universität Erfurt im Jahr 2002 zurück. So sind manche der Aufsätze zuvor anderswo erschienen (z.B. von Thomas Win­kel­bauer), manche andere postulieren weitere Forschungen, die von den Autoren in der Zwischenzeit in Angriff genommen wurden (z.B. Jörg Deventer).

Anstatt nun jeden Beitrag einzeln ausführlich zu würdigen, was hier kaum in dem gebotenen Umfang geschehen kann, soll vielmehr eine – gewiss auch nur recht holzschnittartig zu leistende – Bewertung der neu dem Gesamtbild hinzugefügten Facetten versucht werden. Erfreulicherweise wechselt die Perspektive über die Beiträge hinweg. Sie wechselt von derjenigen der „Exulanten“ – ein zeitgenössischer Begriff für den um seines Glaubens willen Vertriebenen, mit dem beispielsweise in Kursachsen und seitens der Salzburger Protestanten durchaus auch propagandistisch gearbeitet und um besonderes Wohlwollen geworben werden konnte, wie Alexander Schunka (besonders S. 244 und 295) ausführt –, zu derjenigen der Obrigkeit, also von unten nach oben. Es ist eine Obrigkeit, die in aller Regel um der Herstellung konfessioneller Homogenität willen eine Ausweisung bestimmter Bevölkerungsgruppen veranlasst bzw. entgegen ihrer ursprüngliche Absicht verursacht hat, denn, wie etwa dem Beitrag von Jiří Mikulec zu den Habsburgern in Böhmen zu entnehmen ist, lag eigentlich nicht die Auswanderung, sondern die Konversion im Interesse des Staates (S. 175), was eine Reihe von Ausnahmen und Gnadenfristen erklärt, die in der Hoffnung auf eine solche Konversion gewährt wurden. Dabei wurden, wie sich etwa dem – eine ältere deutsche, einseitige Forschungsrichtung korrigierenden – Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg zur Konfessionsmigration zwischen Brandenburg-Preußen und Polen-Litauen entnehmen lässt, Fragen der Repression gegenüber religiösen Dissidenten zu politischen Spielbällen im Ringen um ein Mächtegleichgewicht. Hier ist bereits eine Tendenz erkennbar, die in den weiteren Beiträgen dann noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Spätestens seit der Wende zum 18. Jahrhundert ist die europäische Öffentlichkeit für Gewalttätigkeiten einer Regierung gegenüber Dissidenten beträchtlich sensibilisiert. Daraus erklärt sich die propagandistische Kraft der „Exulanten“-Geschichten; sie zeigt sich aber auch zum Beispiel in der hier nicht erwähnten Reaktion auf das zeitgenössische „Thorner Blutgericht“. Darauf weisen besonders der den Stand der Forschung zu den Salzburger Protestanten kritisch rekapitulierende Beitrag von Rudolf Leeb und Joachim Bahlckes Schilderung des Schicksals und der publizistischen Tätigkeit des nach Schlesien geflohenen oberungarischen Protestanten Matej Bahil hin. Den „Mitleidseffekt des Exulantenschicksals“ wussten sowohl die Betroffenen selbst als auch aufnehmende Regierungen weidlich zu nutzen. Bahlcke sieht mit Blick auf die Natur dieser Publizistik und deren Funktion sogar Anlass zur Feststellung, „dass das konfessionelle Argument im Alten Reich ein Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden größtenteils zur Propaganda verkommen war.“ (S. 332)

Vielen der Beiträge sind Hinweise auf einen unter Adligen mitunter anderen, viel pragmatischeren Umgang mit konfessionellen Fragen zu entnehmen – eine Beobachtung, an die Jörg De­ven­ter im Anschluss an seine Ausführungen zur Konfessionsmigration zwischen Böhmen und Schlesien die Aufforderung zu weiteren Forschungen knüpft. Hierzu passt auch der Aufsatz von Regina Pörtner, in dem die Autorin darlegt, wie sich im 18. Jahrhundert im Zuge einer zunehmenden ökonomischen Konkurrenz von Seiten der Zentralmacht der Wunsch der Adligen nach konfessioneller Homogenität veränderte – er nahm mehr und mehr ab. Mit der Formierung konfessioneller Identität beschäftigen sich etwa die Beiträge von Norbert Kersken, dem überraschende Beobachtungen zur Geschichtsschreibung der „Exulanten“ in Ostmitteleuropa gelingen, und Juliane Brandt, die sich mit der langfristigen Entwicklung bei den ungarischen Protestanten bis ins 19. Jahrhundert beschäftigt.

Die bestehende Forschung wird überall – eingeschränkt freilich durch die verzögerte Publikation – vollständig rezipiert, was allerdings mitunter zu ziemlich überladenen Fußnoten führt. Regelrechte inhaltliche Fehler sind dem Rezensenten nur ganz wenige und noch dazu nicht wirklich wichtige aufgefallen. So fällt z. B. der Begriff „dissidentes“ selbst nicht im Text der Warschauer Konföderation (S. 99).

Resümierend lässt sich über den Band sagen, dass er aus der Literatur zur Migration in der frühen Neuzeit in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein wird.

Alfons Brüning, Nijmegen

Zitierweise: Alfons Brüning über: Joachim Bahlcke (Hrsg.) Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa. Lit Verlag Berlin [usw.] 2008. = Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa, 4. ISBN: 978-3-8258-6668-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bruening_Bahlcke_Glaubensfluechtlinge.html (Datum des Seitenbesuchs)

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