Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 300-302

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Timothy Snyder: Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin. London: The Bodley Head, 2010. XIX, 524 S., Ktn. ISBN: 978-0-224-08141-2.

Mit „Bloodlands“ ist dem Yale-Historiker Timothy Snyder ein Aufsehen erregendes Werk gelungen. Dies haben bereits die zum Teil scharfen publizistischen Debatten des Autors mit Richard J. Evans, Anne Applebaum, Efraim Zuroff und Dovid Katz im Herbst 2010 gezeigt, denen die unterschwellige Kritik zugrunde lag, der Autor habe die eine oder andere Opfer- bzw. Tätergruppe nicht adäquat berücksichtigt. Diese nahezu reflexartigen Missverständnisse reagierten auf Snyders Ansatz, sich dem absichtlichen Massenmord an Zivilisten als „distinct phenomenon“ zuzuwenden, ohne dabei konkrete Gruppen herauszustellen; Snyder selbst nennt sein Werk „a study of the dying rather than the suffering“ (S. 410). Dabei geht es ihm auch nicht um eine Hierarchisierung der Verbrechen Hitlers und Stalins, sondern um die Interaktion der beiden Regime, was von seinen Kritikern zum Teil als Provokation verstanden wurde. Aber der Historikerstreit ist über 20 Jahre her, und Snyder ist höchst nüchtern in seiner Analyse – und lässt nichts aus. Auf einer „Bloodlands“ gewidmeten Diskussionsrunde im Rahmen der ASN-Konferenz im April 2011 in New York stellte John-Paul Himka fest, in Snyders Buch kämen erstmals Vergewaltigungen von jüdischen Frauen (als Teil der Shoah) und Vergewaltigungen von Deutschen (durch Rotarmisten) auf einer parallelen Ebene zur Sprache. Genau dies brachte Snyder den Vorwurf der Relativierung der Shoah ein, doch macht er in Kapiteln wie „Final Solution“, „Holocaust and Revenge“ und „The Nazi Death Factories“ durchaus deutlich, warum der Judenmord einzigartig war (Timothy Snyder: The fatal fact of the Nazi-Soviet pact, in: The Guardian, 5.10.2011). Zugleich aber insistiert er mit Recht darauf, dass der Holocaust in der Ukraine und in Belarus keineswegs ein ‚moderner‘, industrieller Massenmord war, sondern sich in der Durchführung nicht von klassischen Tötungspraktiken unterschied und somit im Kontext des herkömmlichen manuellen Massenmords gesehen werden muss. Die Frage, ob diese oder jene Mordaktion den Begriff „Genozid“ rechtfertige, ist seine Sache indes nicht. Jeder der in seinem Buch diskutierten Fälle kann seiner Ansicht nach als solcher klassifiziert werden, ohne dass dies weitere Erkenntnisse bringen würde – außer für die politische Diskussion (S. 53, 413).

Snyders Thema ist der politische Massenmord unter Hitler und Stalin in einem Nord-Süd-Streifen östlich und westlich der Demarkationslinie des Hitler-Stalin-Paktes („Molotov-Ribbentrop-Europe“), in einem Raum also, in dem sich deutsche und sowjetische Herrschaft zum Teil mehrfach abwechselten und in dem sich das Morden massierte. Dass diese Beschränkung etwas Willkürliches hat, weiß auch der Autor, der in einer Art Nachwort über „Numbers and Terms“ zugibt, dass z. B. Ungarn als von Deutschen und kurz auch von den Sowjets besetzter Ort dieses Massenmords weitgehend unberücksichtigt bleibt; Rumänien wiederum falle aus den „Bloodlands“ heraus, weil es Hitlers Verbündeter war und den Mord an seinen 300.000 Juden in Eigenregie durchführte (S. 409). Zu den Einschränkungen gehört auch, dass direkte Opfer von Kampfhandlungen, Deportierte oder infolge der schlechten Versorgungslage Umgekommene nicht in die Zahl von 14 Millionen Ermordeten einfließen, sehr wohl aber die zum Hungertod verurteilten Kriegsgefangenen (eine Zusammenstellung der laut Verfasser konservativ berechneten Zahl findet sich auf S. 411).

Wer sich auf diese Kriterien einlässt, den erwartet nicht zuletzt eine pointiert formulierte Kritik an den bisher gültigen Erinnerungskonzepten bezüglich der Schrecken von Stalinismus und Drittem Reich. Denn Snyder richtet seine Studie auch an die (vor allem amerikanische) Öffentlichkeit. „Bloodlands“ ist somit auch ein „fulminantes Erinnerungsbuch“, wie Gunter Hofmann es genannt hat (Gunter Hofmann: Opfer gleich Opfer, in: Die Zeit, 27.1.11, S. 6.), zumal seine Sprachkenntnisse es dem Autor erlauben, Arbeiten in den meisten Sprachen der Region in seine Studie einfließen zu lassen. Zunächst bietet die Hinwendung zum Mord an sich (anstelle des Mordes an der einen oder anderen konkreten Opfergruppe) somit die Möglichkeit, die in den nationalen Historiographien dominierenden Aufrechnungen der eigenen Toten zu überwinden und zu einer Gesamtschau des Tötens aus politischen Gründen zu kommen – doch nimmt Snyder den jeweiligen Gesellschaften nicht die Aufgabe ab, sich der Frage der eigenen Täter zu stellen. Snyders Anliegen ist es darüber hinaus, seinem Publikum deutlich zu machen, dass sich der Ort des Massenmords im Zweiten Weltkrieg nicht auf Auschwitz als Chiffre begrenzen lässt, nicht einmal im Falle der jüdischen Opfer. Als Birkenau sein Vernichtungswerk im Frühjahr 1943 aufnahm, seien zwei Drittel der Opfer des Holocaust und sogar 90 % der von den beiden Regimen Getöteten bereits nicht mehr am Leben gewesen: „Auschwitz is the coda to the death fuge“ (S. 383). Während Auschwitz aber überlebbar war, spielen die eigentlichen Todesfabriken, alle westlich der Molotov-Ribbentrop-Linie gelegen, schon deshalb keine Rolle als Erinnerungsort, weil es kaum Überlebende gab, die davon hätten erzählen können.

Keinen Zweifel lässt der Verfasser zugleich daran, dass Stalin den Massenmord an Zivilisten Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine begann und dass bis 1941 Polen in der Sowjetunion weitaus stärker vom Tode bedroht waren als Juden im Dritten Reich. Es sind Gegenüberstellungen wie diese, die zumal dem fachfremden Leser die Dynamiken des Terrors in Europa Mitte des 20. Jahrhunderts vor Augen führen und damit zu erklären helfen, warum die isolierte Untersuchung der ‚braunen‘ oder der ‚roten‘ Verbrechen nicht weiterhilft. Viel Raum lässt der Verfasser den gut 200.000 polnischen Opfern der Jahre 1939–1941, als sich ‚braune‘ und ‚rote‘ Mörder die Hand reichten. Manche Tote sind auch direkt auf die Interaktion beider Regime zurückzuführen: Hitler konnte nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ auch deswegen so viele Rotarmisten gefangen nehmen (und verhungern lassen), weil Stalin ihnen den Rückzug verboten hatte. Die Deutschen erschossen auch deswegen so viele Zivilisten, weil ihnen die Partisanen den Anlass lieferten. Schließlich starben zu Kriegszeiten auch deswegen so viele GULAG-Insassen, weil die deutsche Okkupation die Lebensmittelversorgung erschwerte (Timothy Snyder: Hitler vs. Stalin: Who Killed More?, in: New York Review of Books, 10.3.2011).

Snyder setzt sich auch mit dem im Westen vermittelten Bild der Sowjetunion auseinander. Stalins Regime habe weitaus weniger Opfer gefordert, als zum Teil vor der Öffnung der osteuropäischen Archive spekuliert worden war. Doch heißt dies nicht, dass er diesen Umstand in die ideologische Schlacht führt, um die sowjetische Geschichte in irgendeiner Weise zu rehabilitieren, im Gegenteil. In Friedenszeiten verhungerte Ukrainer und die vor 1941 erschossenen Polen liefern ein beredtes Zeugnis der ethnischen Säuberungspraktiken à la Stalin. Hitlers Mordrausch begann hingegen erst unter Kriegsbedingungen auf erobertem Gebiet. Zugleich rechnet Snyder jedoch auch mit dem in der Sowjetunion vom „Großen Vaterländischen Krieg“ gezeichneten Bild der heroischen Bewährungsprobe der Sowjetvölker ab, aus denen die Russen herausragten, hatten doch unter der deutschen Besatzung vor allem Nicht-Russen zu leiden, die erst durch den Pakt der Diktatoren sowjetisiert worden waren: Verschwiegen wurde in der sowjetischen Nachkriegszeit, dass die Deutschen mehr jüdische als russische Sowjetbürger ermordet hatten; verschwiegen wurde aber auch, dass viele Sowjetbürger in Treblinka, Sobibór und Bełżec eingesetzt worden waren.

Man mag dem Autor vorwerfen, die Vergangenheit der von ihm betrachteten Region vor 1933 und den konkreten Terror auf der Mikroebene nicht genügend einbezogen zu haben. So hielt Christian Gerlach auf der angesprochenen New Yorker Konferenz „Bloodlands“ schlicht für zu dünn, um eine dem Thema adäquate Darstellung zu sein (was Himka indes mit der Bemerkung konterte, auch viele Nicht-Spezialisten würden das Buch lesen, obwohl es so dick sei), und wies auf ungenügende Archivstudien hin. Dabei kann der englischsprachige Leser Snyder dankbar sein, dass neben eigenen auch maßgebliche fremde Archivstudien – nicht zuletzt Gerlachs Arbeit zu Belarus – umfassend ausgewertet und leserfreundlich präsentiert werden. Tatsächlich liegt aber wie bei vielen ähnlich ausgreifenden Werken der Teufel im Detail. Snyder nutzt z. B. im Falle der Deportationen aus den baltischen Staaten im Juni 1941 mal diese, mal jene Zahlen (auf S. 143 wurden 6.000, auf S. 193 11.200 Esten deportiert), und die Karte zu Katyń auf S. 136 zeigt unter dem Datum „April 1940“ bereits Sowjetrepubliken, die erst im August gegründet wurden. Zuweilen geht auch sein Drang zu pointierten Formulierungen zu weit, etwa, wenn er die antijüdischen Pogrome in Litauen im Sommer 1941 einfach als „Nazi edition of a Soviet text“ charakterisiert; zugleich trifft er allerdings ins Schwarze, wenn er die übliche Betrachtung umdreht und erklärt, antijüdische Ausschreitungen als Rache für den NKVD-Terror hätten die Weltanschauung der Nazis bestätigt, welche die Sowjetunion als jüdischen Staat sah (S. 196).

Das Buch, das mit dem bewusst von Stalin in Kauf genommenen Hungertod von Millionen von Ukrainern beginnt, endet mit einem weit in die Jahre des Kalten Krieges ausgreifenden Kapitel über „Stalinist anti-Semitism“. Die Sowjetunion hatte mit der Einwilligung der Alliierten Hitlers Ost-Imperium geschluckt – und damit nicht nur die traditionellen Siedlungsgebiete des europäischen Judentums, sondern auch die Stätten des Massenmords. Da der Stalinismus jedoch den Juden die historische Position als Opfer der Deutschen nahm und sie zu aktiven anti-kommunistischen Verschwörern machte, habe Hitlers Weltanschauung in zumindest diesem Aspekt gesiegt (S. 376). Ist es dieses Argument, das den (un-sowjetischen) Mythos der sowjetischen Befreier von Auschwitz aushebelt, welches Snyder die Kritik einbrachte, er relativiere den Holocaust? Snyder lässt keinen Zweifel daran, dass die „competition for memory“ im Westen den Holocaust, die anderen deutschen Morde und den sowjetischen Terror zu drei unterschiedlichen Geschichten erklärt habe, obgleich sie doch zeitlich und lokal eng miteinander verbunden waren. Dabei sei das westliche Holocaust-Gedenken selektiv gewesen, da es sich nur auf die Erfahrungen einiger weniger gestützt und die fast fünf Millionen Juden, die östlich von Auschwitz ermordet worden waren, sowie die fünf Millionen nicht-jüdischer Opfer der Nazis ausgeblendet habe.

Nazi- und Stalin-Terror zusammen zu denken, passt nicht in die zum Teil immer noch weit geöffneten ideologischen Schubladen des 20. Jahrhunderts. Snyders Buch, das demgegenüber in höchstem Maße de-ideologisierend und de-mythologisierend ist, erweitert den Horizont unserer Erinnerung erheblich. Es ist damit zugleich ein willkommener Beitrag in der Debatte um ein europäisches historisches Gedächtnis.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: ID AutorFN1 AutorVN1 AutorFN2 AutorVN2 AutorFN3 AutorVN3 Körperschaft Autor_Vorlage Titel Untertitel Band Reihe Verlag Ort Jahr Seitenzahl ISBN Kommentar Eintragender Eintragsdatum Anfrage an angefragt am Rezensentenvorschläge zu rezensieren Umfangsvorgabe Komm bestellen bei Preis Bestellnummer angefordert am erhalten am Rezensent I Anbieten Rezensent angeboten am Endgültiger Rezensent zugesagt Art (D, L,) letzte Mahnung abgeschickt am MS Eingang Sonderfrist bis Rubrik Veröff_Band Veröff_Jahr Veröff_Heft Veröff_Seite_ab Veröff_Seite_bis Veröff_Anm Rubrik_DDC_Geographie Rubrik_DDC_Sachgruppe Rubrik_DDC_Zeitgruppe Text26890 ISSN Auflage Fussnote Text-29535 Rezensionsprojektbezug projektbezug_rezensionen.ID Sprache Art8150 Prusin Alexander V. The Lands Between Conflict in the East European Borderlands, 1870-1992 Zones of Violence Oxford University Press Oxford, New York 2010 XI, 324 S., 5 Ktn., 4 Tab. 978-0-19-929753-5 Anforderung: ohne; 11.11.2010 Brüggemann meldet sich; 12.11.2010 Zusage an Brüggemann; 18.-22.11.2010 Brüning, Grelka, Edele melden sich auf Rundschreiben; 23.11.2010: Buch im Rahmen von SR Karsten Brüggemann angeboten;; 11.04.2011 gemahnt; Frötschner 11.10.2010 ja 7500 1/11 11.10.2010 7500 Karsten Brüggemann (ja); Brüggemann 12.11.2010 11.04.2011 02.12.2010 05.07.2011 30.06.2011 Ostmitteleuropa Politikgeschichte 20. Jh. (1914–1989) Monographie 1 Alexander V. Prusin, , The Lands Between. Conflict in the East European Borderlands, 1870-1992. / . Oxford, New York: Oxford University Press, 2010, XI, 324 S., 5 Ktn., 4 Tab.. = Zones of Violence. ISBN/ISBN: 978-0-19-929753-5/ 831 Prusin englisch Rezension, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brueggemann_Snyder_Bloodlands.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Karsten Brüggemann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.