Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 329-330

Verfasst von: Per Brodersen

 

Markus Podehl: Architektura Kaliningrada. Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2012. 420 S., 451 Abb., Ktn.. = Materialien zur Kunst, Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, 1. ISBN: 978-3-87969-375-7.

Der Name ist Programm – nicht umsonst hat Markus Podehl seinem Buch den russischsprachigen Titel Architektura Kaliningrada – also „Architektur Kaliningrads“ – gegeben: Podehl widmet sich mit seiner 2010 verteidigten und 2012 veröffentlichten Dissertation speziell der sowjetischen Architektur Kaliningrads der 1970er und 1980er Jahre – einer Zeit, die nur selten mit architektonischen Meilensteinen assoziiert wird. Wie der Titel signalisiert, will sich Podehl ganz und gar auf eine Kaliningrader Perspektive einlassen und seinen Untersuchungsgegenstand aus einem regionalen Horizont verständlich machen – also auch im übertragenen Sinne jene Sprache sprechen, mit der ein tieferes Verständnis für die Entwicklung Königsberg-Kaliningrads möglich ist.

Podehls Ansatz ist schlüssig und bietet prinzipiell viele Gelegenheiten, unser Verständnis der sozialökonomischen Situation im zastoj der späten Sowjetunion um neuen Facetten zu bereichern.

Die von Podehl beschriebene Bauaktivitäten besaßen in Kaliningrad einen ganz besonderen Subtext: Sie wirkten einer jahrzehntelangen gefühlten Unsicherheit unter der Bevölkerung entgegen, inwiefern dem Gebiet Kaliningrad – das bis 1945 den nördlichen Teil der deutschen Provinz Ostpreußen mit seiner Hauptstadt Königsberg bildete und am Kriegsende von der Sowjetunion annektiert worden war – eine sowjetische Zukunft beschieden war. Erst jetzt investierte die Sowjetunion verstärkt in ihre westlichste Region, die sie zwar mit Sowjetbürgern vor allem aus Zentralrussland besiedelt hatte, aber dennoch lange Zeit vernachlässigte.

Podehl begreift sein Buch als „Versuch, die Formen der Kaliningrader Architektur aus ihren jeweiligen historischen Bedingungen und Absichten verständlicher zu machen []“ (S. 4); dabei geht er spannenderweise über ein althergebrachtes Verständnis der Stadtgeschichte hinaus und weist auf viele Kontinuitäten über den tiefen Bruch von 1945 hin, die „Königsberg als Stadt der Moderne“ auszeichnen (S. 4, 80).

Doch so bestechend der erste Eindruck des aufwändig ausgestatteten, stolze 1,2 Kilogramm schweren Bandes mit 451 (sic!) Abbildungen sein mag, so schnell verfliegt er angesichts einer sehr deskriptiv gehaltenen Darstellung der Stadtgeschichte Königsberg-Kaliningrads: Verblüffen muss schon als erstes, dass Podehl die aktuellsten Studien zu seinem Untersuchungsgegenstand zwar im Vorwort nennt, sie aber in seiner Arbeit faktisch ignoriert – nur so erklären sich seine nicht haltbaren Ausführungen, die bisherige Literatur vermittle nur „ein vergleichsweise knappes und oberflächliches Bild der Ostseemetropole, [] allzu verschwommene Eindrücke von der russischen Realität vor Ort bleiben tonangebend“ (S. 3).

Unreflektiert bleibt Podehl auch in seiner Begrifflichkeit, wenn „Totalitarismus, dessen Angst und Zerstörung fördernde Struktur der Stadt großen Schaden zugefügt hat“, als offenbar handelndes Subjekt weder ausgeführt noch kritisch thematisiert wird (S. 5); Unschärfen in der Übersetzung von Termini (beständiges Femininum von Gebiets-, Kreis- und sonstigen Arten von ispolkom; tridevjatyj region mit „eine Gegend, weit weg“ übersetzt, S. 392) wecken Zweifel. Falsche Kartenbetitelungen („Ostpreußen 1815–1870“ in der Oberzeile, in der Unterzeile jedoch „Ostpreußen 1939–1945“, S. 75; „Ostpreußen 1949–1991“ auf S. 82) sind nicht geeignet, diesem Eindruck abzuhelfen.

Vor allem aber vergaloppiert sich der Autor bei seinem Versprechen, es würden „nun erstmals, in Wort und Bild, explizit Architektur, Stadtgestalt und die Metamorphose des sowjetischen Kaliningrads untersucht“ (S. 3) – den so fruchtbaren Ansatz des visual turn führt Podehl ad absurdum: Die Illustrierung des Bandes, die in Kombination mit dem Text auf neue Weise zu einem tieferen Verständnis der Stadtgeschichte beitragen soll, erschlägt den Leser in ihrer überbordender Fülle und mangelnden Aufbereitung – und fällt damit als Beleg für den Argumentationsgang häufig aus.

Planungsentwürfe für sowjetische Innenstädte werden auf unlesbares Kleinformat gebracht (S. 9697), und auch Abbildungen an anderer Stelle sind kaum erkennbar (etwa S. 88, S. 97, S. 114). Fotografien von Gebäudedetails sind oft nicht ausgeführt und von geringer Aussagekraft (S. 10, S. 174175) – Illustrationen zum „Einsatz von Schlackebetongroßblöcken“ oder „von Großplatten aus Keramsitbeton“ bleiben überflüssige Details, genauso wie eine doppelseitige Abbildung des Leninskij Prospekt in Kaliningrad an einem klaren Sommermorgen des Jahres 2006 (S. 370371). Solche Abbildungen rechtfertigt auch nicht unbedingt das prinzipiell nachvollziehbare Ziel Podehls, angesichts unsicherer zukünftiger Archivzugangsbedingungen viel Material auf Verdacht zu publizieren (S. 9). Sehr oft fehlen zudem Jahresangaben zu den Abbildungen, so dass diese erst umständlich am Ende des Bandes nachgeschlagen werden müssen und keine schnelle Orientierung möglich ist. Hinzu kommt die zweispaltige Gestaltung des Textes, die in Kombination mit den so zahlreichen Illustrationen den Lesefluss erheblich erschwert.

Was bleibt, ist der Eindruck, der Autor sei der Vielzahl von Abbildungen und der erforderlichen Interpretation nicht mehr Herr geworden. Eine Beschränkung auf aussagekräftige, nachvollziehbar erforderliche Abbildungen wäre hier dringend notwendig gewesen. Damit aber wäre wohl zu wenig vom erwähnten Anspruch übrig geblieben, „erstmals, in Wort und Bild, explizit Architektur, Stadtgestalt und die Metamorphose des sowjetischen Kaliningrads“ zu untersuchen (S. 3).

Fazit: Der Anspruch auf „Pioniercharakter“ (S. 9) und das eher neblige Resultat der Arbeit stehen in einem markanten Kontrast zueinander. Das ist schade.

Per Brodersen, Berlin

Zitierweise: Per Brodersen über: Markus Podehl: Architektura Kaliningrada. Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2012. 420 S., 451 Abb., Ktn.. = Materialien zur Kunst, Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, 1. ISBN: 978-3-87969-375-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brodersen_Podehl_Architektura_Kaliningrada.html (Datum des Seitenbesuchs)

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