Benjamin Frommer National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in PostWar Czechoslovakia. Cambridge University Press Cambridge 2005. XV, 387 S., Abb., Tab. = Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 20.

Im April 1946 wurde in Prag der Prozess gegen die fünf noch lebenden Minister der sogenannten Protektoratsregierung – eines tschechischen Kabinetts in dem 1939 vom nationalsozialistischen Deutschland geschaffenen und beherrschten „Protektorat Böhmen und Mähren“ – eröffnet. Als im Juli die Urteile verkündet wurden, war darunter wider Erwarten kein einziges Todesurteil. Gegen diesen Spruch lief die Kommunis­tische Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) in den kommenden Wochen und Monaten Sturm, und mit ihr protestierten ihre zahlreichen Basis- und Betriebsorganisationen überall in den böhmischen Ländern. Trotz dieses enormen Drucks wurde der Prozess nicht wieder aufgenommen. Der amerikanische Historiker Benjamin Frommer bezeichnet diese Entscheidung in seinem Buch über die Nachkriegsjustiz in der Tschechoslowakei als hoffnungsvolles Zeichen für die Entwicklung der tschechoslowakischen Demokratie (S. 312). Nicht nur hatte der Justizminister einen direkten politischen Einwirkungsversuch auf das Höchste Gericht verweigert, auch waren die kommunistischen Mobilisierungskampagnen als Mittel der Korrektur unerwünschter Regierungsbeschlüsse in diesem Fall erfolglos geblieben.

Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs stellte die Abrechnung mit den Repräsentanten der Okkupationsmacht, ihren Helfern und Helfershelfern in allen vormals deutsch besetzten Ländern ein erstrangiges Ziel dar. So unterschiedlich die Erwartungen an die Akte der „Säuberung“ waren – von der Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Opfer der Gewaltherrschaft über die Pazifizierung der durch die Besatzung zutiefst desintegrierten Gesellschaften bis hin zur Legitimierung neuer politischer Ordnungen –, so kontrovers wurden diese diskutiert. Die Tschechoslowakei war in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Der Prozess der Retribution, wie die Überprüfung und Säuberung hier genannt wurde, war extrem umstritten. Das lag auch daran, dass er sich über die unmittelbare Bestrafung der Verantwortlichen hinaus mit zwei anderen großen Themen verband: mit der Aussiedlung der Deutschen einerseits, der gesellschaftlichen Umgestaltung andererseits, im Zuge derer alte, traditionelle Eliten degradiert und gesellschaftliche Hierarchien neu definiert wurden.

Beide Aspekte sind in der Forschung nicht neu – im Gegenteil: Oft wurde die Retribution (vor allem von deutschen Autoren) mehr oder minder mit „Rache an den Deutschen“ gleichgesetzt oder aber auf ein Instrument reduziert, mit dem die Kommunisten auf ihrem Weg zur Alleinherrschaft so viel von den alten gesellschaftlichen Strukturen zu zerstören suchten wie nur irgend möglich.

Benjamin Frommer indessen zeichnet ein differenziertes Bild, indem er nicht nur die legislative Grundlage und die gerichtliche und punitive Praxis darlegt, sondern auch die politischen Interessenlagen und die gesellschaftliche Atmosphäre einbezieht, in der das große „Säuberungsprojekt“ durchgeführt wurde.

Nach einer Phase der „wilden Abrechnung“, deren Ursprung Frommer eindeutig nicht im ungeleiteten Volkszorn, sondern bei der politischen Führung verortet, die durch „nützliche Anarchie“ (S. 63) die Vertreibung der Deutschen „einleiten“ wollte, begann ein umfassender Überprüfungsprozess, der auch mehrere Hun­derttausend Tschechen und Slowaken erfasste. Dabei bestätigen Frommers Befunde für die gesamten böhmischen Länder, was tschechische Autoren wie Tomáš Staněk, Mečislav Bo­rák und Dušan Janák bereits in Regional- und Lokalstudien gezeigt haben: Während im Umgang mit den Deutschen oft Abschiebung vor Anklage, Prozess und Strafe kam, so dass zahlreiche NS-Funktionsträger vor allem der unteren Ebene die Tschechoslowakei unbehelligt ver­ließen, wurde die tschechische Gesellschaft sehr weitgehend überprüft. In dem „Kleinen Re­tri­bu­tions­de­kret“, das bereits nur noch tschechische Verstöße gegen die „nationale Ehre“ ahnden sollte, wurden die Straftatbestände deutlich ausgeweitet: auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziale Kontakte mit Deutschen, aber auch auf Hilfsleistungen für Deutsche nach Kriegsende. Eine neue Prozesswelle wäre jedoch kaum an­gerollt, hätte in der Nachkriegs­tschechoslowakei nicht eine von den Nationalsozialisten geschaffene „Kultur der Denunziation“ (S. 184) weitergewirkt, die die KPTsch mit un­ablässigen Aufrufen, alle „Feinde der Na­ti­on“ zu melden, gezielt am Leben hielt. Persönliche Fehden und parteipolitische Machtkämpfe, die über Denunziationen ausgetragen wurden, schufen ein Klima der Missgunst, des Misstrauens und der Angst.

War die „Kleine Retribution“ ein Sieg der Kräfte, die die Revolution wei­ter­trei­ben wollten und dafür rechtsstaatliche Prinzipien gerne opfer­ten, beschreibt Frommer die großen Prozesse der unmittelbaren Nachkriegszeit als Ausdruck einer fortwirkenden liberalen Rechtskultur: Sowohl das unerwartet milde Urteil im Prozess gegen die „Pro­tek­to­rats­re­gie­rung“ als auch die Todesurteile und hohen Haftstrafen, mit denen etwa das Verfahren gegen die Herausgeber und Redakteure der nationalsozialistischen Zeitschrift „Árij­s­ký boj“ (Arischer Kampf) endete, zeugen Frommer zufolge davon, dass die Justiz die Aufgabe ernst nahm, Verbrechen, die während der nationalsozialistischen Okkupation von Tschechen begangen worden waren, angemessen zu ahnden (S. 347). Das Rechtssystem habe sich zudem immer wieder als Bastion der Demokratie vor allem gegen die von den Kommunis­ten dominierten Polizei- und Sicherheitsapparate erwiesen (S. 341).

Bekanntlich wurde diese Bastion im Februar 1948 definitiv genommen. Unmittelbar nach dem „Siegreichen Februar“ veranlasste die KPTsch die Wiederaufnahme zahlreicher Verfahren und strengte neue Prozesse nach dem „Kleinen Dekret“ an.

Benjamin Frommers Arbeit zeigt aber nicht nur das prononcierte Interesse der Kommunisten, über die juristische Abrechnung gesellschaftliche Transformation in ihrem Sinne zu befördern. Sie zeichnet einen Erosionsprozess der Rechtsstaatlichkeit nach, der ohne die Jahre der deutschen Besatzung nicht zu verstehen ist und der weder linear verlief noch das Ergebnis eines Kampfes zwischen zwei einander diamet­ral entgegengesetzten politischen Lagern war, sondern das Resultat der Unterordnung rechtsstaatlicher Maximen unter politische Ziele und einer politisch gewollten unzureichenden Gewaltenteilung. Damit weist Benjamin Frommers – im übrigen hervorragend geschriebene – Studie weit über ihren eigentlichen Gegenstand hin­aus. Am konkreten Beispiel der juristischen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus bietet sie ein ausgewogenes Porträt der Tschechoslowakei der Jahre 1945–1948 mit ihren demokratischen Potentialen, rechtsstaatlichen Defiziten und autoritären Zügen.

Christiane Brenner, München

Zitierweise: Christiane Brenner über: Benjamin Frommer: National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in PostWar Czechoslovakia. Cambridge University Press Cambridge 2005. = Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 20. ISBN: 0-521-00896-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 462-463: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brenner_Frommer_National_Cleansing.html (Datum des Seitenbesuchs)