Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 693-695

Verfasst von: Thomas Bremer

 

Jarrett Zigon: Multiple Moralities and Religions in Post-Soviet Russia. Edited by Jarrett Zigon. New York, Oxford: Berghahn, 2011. VII, 238 S., 5 Abb., 1 Tab. ISBN: 978-0-85745-209-2.

Dem Thema „Religion in Russland“ werden in den letzten Jahren mehr und mehr Studien und Sammelbände gewidmet. Sie kommen nicht nur aus der Geschichtswissenschaft, sondern auch aus der Politologie, der Soziologie, der Religionswissenschaft oder anderen Fächern. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes vertreten in ihrer großen Mehrheit die Kulturanthropologie; sie haben sich vorgenommen, der Frage nach religiös begründeten moralisch-ethischen Ansätzen und Praktiken im postsowjetischen Russland nachzugehen. Das ist eine überaus interessante Fragestellung, da zu überlegen ist, ob und wie sich die Traditionen der orthodoxen und der sozialistischen Moral unter den Bedingungen des heutigen Russlands (und unter Einfluss weiterer religiöser Traditionen) zu einem Normen- und Wertekanon entwickeln, und wie dieser von den Akteuren, von den handelnden und entscheidenden Menschen also, umgesetzt wird.

Der Band besteht aus zehn Kapiteln und einem Nachwort. Die ersten beiden Kapitel sind als Introduction zusammengefasst, die anderen acht sowie das Nachwort unter der Überschrift Multiple Moralities. Der Herausgeber des Bandes gibt zunächst einen einführenden Überblick, in dem er darauf verweist, dass die Klage über die fehlende Moral (vor allem der Jugend) eine lange sowjetische Tradition hat und dass vor allem die Argumentation mit religiösen Traditionen nach dem Ende der UdSSR den Diskurs verändert hat. Alexander Agadjanian, Religionswissenschaftler an der Moskauer RGGU, stellt in seinem Beitrag die russische postsowjetische Religiosität in den Mittelpunkt, wobei der Bezug zur Frage nach der Moral nicht immer deutlich wird. Die übrigen Beiträge bringen sehr unterschiedliche Fallstudien: Das Verständnis von nravstvennost’ bei russischen Lehrerinnen (A. Ładykowska), ökumenische Projekte zu sozialer Gerechtigkeit (M. L. Caldwell), karitative Aktivitäten zweier orthodoxer Gemeinden in einer Stadt bei St. Petersburg (D. Tocheva), die fragile moralische Situation im Nachkriegstschetschenien (I. Rau­bisko), die moralischen Vorstellungen der „Kirche des Letzten Testaments“ im Kontext der sowjetischen Vergangenheit (A. A. Panchenko), die Verwendung der Familie des letzten Zaren für verschiedene moralische Standpunkte (K. Rousselet), die Verehrung der heiligen Xenia von St. Petersburg (J. Kormina/S. Shyrkov) und die Frage nach der Unterstützung von Kirchenneubauten durch Sponsoren und Gemeindeangehörige (T. Köllner). In ihrem Nachwort diskutiert Catherine Wanner die Frage nach der Moralität als konzeptionelles und theoretisches Problem unter besonderer Berücksichtigung der postsozialistischen Situation und des „secularism“ als Herausforderung für die Anthropologie. Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren sowie ein Register beschließen den Band.

Die vorliegende Publikation hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits handelt es sich um zumeist eindrucksvolle und sehr sorgfältig recherchierte Einzelstudien. Die Verfasserinnen und Verfasser haben zum Teil aufwändige und lange Forschungsaufenthalte in entlegenen Regionen Russland auf sich genommen, um mit Methoden der anthropologischen Feldforschung wie etwa teilnehmende Beobachtung oder Interviews zu ihren Erkenntnissen zu gelangen, die sie in den Beiträgen konzeptionell aufbereitet haben. So erfahren wir von Phänomenen, die bisher nur wenigen Spezialisten bekannt waren. Andererseits aber vermisst man bei der Lektüre ein wenig den Zusammenhang zwischen den Beiträgen. Auch dem „Nachwort“, das auf zwar auf einzelne der Beiträge eingeht (und das ebenso gut in den einleitenden Teil gepasst hätte), gelingt es nicht, die Kohärenz des Bandes zu vergrößern. Dazu kommt, dass sich viele der Beiträge auf moralische Praktiken konzentrieren; die Frage nach Konzepten bleibt damit aber ausgespart – und man gewinnt ein wenig den Eindruck, als sei das geradezu ein Anliegen des Bandes.

Ein Versuch zur Herstellung von Kohärenz (der den Rezensenten aber nicht überzeugt hat) findet sich im einleitenden Beitrag des Herausgebers, der dort zwischen Moral und Ethik unterscheidet – Ethik verstanden „as a conscious attempt to be moral in moments of dilemma and questioning“ (S. 8). „Moral“ sind dann verschiedene individuelle und diskursive Haltungen, die institutionalisiert sein können (aber nicht müssen). Diese Unterscheidung entspricht dem Anliegen des Bandes, die Vielzahl von „moralities“ herauszustellen, die es heute in Russland gibt, was ja durchaus der Realität entspricht. Allerdings bleibt die Frage nach dem Erkenntnisgewinn über die vom Herausgeber formulierte Einsicht hinaus, dass Russland ebenso wie jede andere Gesellschaft multiple Moralvorstellungen hat. Wenn das so ist, und wenn sich die Fragestellung darauf beschränkt, dann ist letzten Endes auch die Auswahl der Fallstudien nicht von zentraler Bedeutung; man hätte diesen Nachweis auch mit ganz anderen Studien führen können. Allerdings vergibt man sich durch diese Beschränkung die Möglichkeit, die durchaus spannend gewesen wäre, aus den Beiträgen so etwas wie ein Grundprinzip (oder mehrere) der Konstruktion moralischer Überzeugungen und Handlungsweisen herauszuarbeiten; vielleicht das, was der Herausgeber unter „Ethik“ versteht. Dazu wäre es allerdings notwendig gewesen, nicht nur nach moralischen Positionen zu fragen, sondern auch die Wege zu untersuchen, auf denen sie zustande kommen, und die dahinter stehenden Konzepte. Dass das nicht geschehen ist, ist bedauerlich, schmälert aber die Qualität der im Band dokumentiert Studien nicht.

Thomas Bremer, Münster

Zitierweise: Thomas Bremer über: Jarrett Zigon: Multiple Moralities and Religions in Post-Soviet Russia. Edited by Jarrett Zigon. New York, Oxford: Berghahn, 2011. VII, 238 S., 5 Abb., 1 Tab. ISBN: 978-0-85745-209-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bremer_Zigon_Multiple_Moralities.html (Datum des Seitenbesuchs)

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