Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 474-475

Verfasst von: Thomas Bremer

 

E. B. Smiljanskaja (Hrsg.): O svoej zemle, svoej vere, nastojaščem i perežitom v Rossii XX–XXI vv. K izučeniju biografičeskogo i religioznogo narrativa [Über das eigene Land, den eigenen Glauben, die Gegenwart und über das Erlebte in Russland im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Erforschung des biographischen und religiösen Narrativs]. Moskva: Indrik, 2012. 472 S., Abb. = ISBN: 978-5-91674-217-6.

Der vorliegende Band stellt eine Sammlung von Aufsätzen dar, die sich mit dem religiösen Leben vor allem von Altgläubigen (verschiedener Denominationen), von (orthodoxen und altgläubigen) Kareliern und von Komi in Russland befassen. Das Material besteht aus Aufsätzen und Aufzeichnungen, die vor allem seit den 1990er Jahren bei Feldforschungen mit ethnologischem, linguistischem und archäographischem Hintergrund gesammelt bzw. erstellt wurden; einige Quellen stammen auch aus früheren Zeiten.

Die Beiträge sind in vier Abschnitte eingeteilt. Der erste problematisiert in zwei Beiträgen die Verwendung von mündlichen Quellen (ustnyj narrativ), stellt also die methodischen Probleme in den Vordergrund (Länge von Feldaufenthalten, Beziehung des/der Forschers/Forscherin zur untersuchten Gruppe etc.), aber auch den Umgang mit dem Text. Hierbei wird auch ein knapper Überblick über die russische (und die westliche) Debatte gegeben. Die vier Beiträge des zweiten Abschnitts befassen sich mit eschatologischen Vorstellungen. Häufig wird bei religiösen Sondergruppen die Gegenwart als die „letzten Zeiten“ verstanden, die angebrochen seien, so dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe. Auch spielt die Beziehung zu Angehörigen anderer Glaubensrichtungen, die in der Nachbarschaft leben, eine wichtige Rolle. Faszinierend ist die Darstellung von konkreten Lebensformen des Alltags (etwa Speiseverbote), die auf religiöse Grundlagen zurückgeführt werden. Sie dienen zur Abgrenzung von den anderen, die andere Gebräuche beachten. In diesem Abschnitt werden ausführlich Gespräche dokumentiert, die die Forscher und Forscherinnen zu verschiedenen Zeiten mit ihren altgläubigen Informantinnen und Informanten hatten und die ein lebendiges Bild von den religiösen Vorstellungen und Praktiken geben.

Der dritte Abschnitt ist mit Magie und Mythologie im Alltagsleben überschrieben. Hier geht es in zwei Beiträgen um magische Praktiken (Heilung von Krankheiten und Beschwerden) und um Erlebnisse von übernatürlichem Charakter, wieder mit ausführlichem Originalmaterial. Der letzte Abschnitt des Buches schließlich befasst sich mit unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Vergangenheit: Ein Dorf, dessen Bewohner im Zusammenhang mit der Katastrophe von Černobyl’ umgesiedelt wurden, und ihre Art, sich an den Ort ihrer Herkunft zu erinnern, sowie zwei Beispiele der Vergangenheitsbearbeitung von Kareliern. Informationen zu den Autorinnen und Autoren sowie eine kurze englische Zusammenfassung beschließen den Band, der mit zahlreichen eindrucksvollen Fotografien, darunter vielen in Farbe, reich bebildert ist.

Am Anfang dieses Buches stand ein wichtiges methodisches Problem, nämlich die Frage nach den Möglichkeiten der Verwendung von freiem Redematerial, das bei den Expeditionen gesammelt wurde. Die Autorinnen und Autoren haben dieses Problem zwar nicht gelöst, haben aber durch ihre Beiträge verschiedene Beispiele dafür gegeben, wie ethnologisches Material (mit religiösem Bezug) sinnvoll eingesetzt werden kann. Die wiedergegebenen Interviews, Erzählungen und anderen Originaltexte geben ein aufschlussreiches Bild vom religiösen Leben vor allem der Altgläubigen in der russischen Provinz, das uns dabei hilft, unser Bild von Religiosität in Russland überhaupt zu korrigieren. „Altgläubigentum“ (wie auch „Orthodoxie“) ist ein Konstrukt, das es in der Realität in der Idealform nicht gibt, wie sie sich die Fachleute aus Geschichtswissenschaft, Theologie, Religionswissenschaft und anderen Gebieten oft vorstellen. Neben der theoretisch-methodischen Diskussion und der Darstellung des gesammelten Materials ist das ein nicht geringer Ertrag des empfehlenswerten Buchs.

Thomas Bremer, Münster

Zitierweise: Thomas Bremer über: E. B. Smiljanskaja (Hrsg.): O svoej zemle, svoej vere, nastojaščem i perežitom v Rossii XX–XXI vv. K izučeniju biografičeskogo i religioznogo narrativa [Über das eigene Land, den eigenen Glauben, die Gegenwart und über das Erlebte in Russland im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Erforschung des biographischen und religiösen Narrativs]. Moskva: Indrik, 2012. 472 S., Abb. = ISBN: 978-5-91674-217-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bremer_Smiljanskaja_O_svoej_zemle.html (Datum des Seitenbesuchs)

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