Anastasia V. Mitrofanova The Politicization of Russian Orthodoxy. Actors and Ideas. With a foreword by William C. Gay. ibidem-Verlag Stuttgart 2005. 240 S., 20 Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 13.

Der vorliegende Band ist eine Untersuchung über die verschiedenen Gruppen, Bewegungen und Initiativen in Russland, die sich für politische Ziele die Symbolik und Rhetorik der or­tho­doxen Kirche zu Eigen machen. Es geht also nicht um die russische Orthodoxie und auch nicht um eine Wertung des Missbrauchs der religiösen Zeichenwelt, sondern um die Darstellung der Gruppen, die das zu politischen Zwecken tun. Das sind in erster Linie solche Bewegungen, die in der Besinnung auf die orthodoxe Tradition Russlands den einzigen Weg sehen, Russland vor dem vermuteten schädlichen Einfluss aus dem Westen zu bewahren und das Land seiner „eigentlichen“ Bestimmung zuzufüh­ren. Die Orthodoxie wird hierbei als identitätsbildendes Element verwendet, ohne dass Reli­giosität dabei eine besondere Rolle spielen würde.

Die Verfasserin hat ihre Studie in sieben Kapitel gegliedert. Zunächst nimmt sie eine eigene Unterscheidung zwischen politischer Religion und Phänomenen wie Fundamentalismus oder ethnisch- bzw. nationalistisch-religiösen Ideologien vor; „politische Religion“ wird von der Verfasserin im Unterschied zum üblichen Gebrauch verwendet, wenn Ideologien ihre Vorgehensweisen durch Berufung auf den Bereich des Transzendenten rechtfertigen. Im zweiten Kapitel wird dann die „politische Orthodoxie“ näher bestimmt, die grundsätzlich anderen Formen der politischen Religion ähnelt: Berufung auf transzendente Autorität, freie Interpretation der kirch­lichen Dogmen und eine strenge Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“, die allerdings häufig willkürlich gezogen wird, sind hier die Kernpunkte. Die Verfasserin unterschei­det fünf Formen der politischen Orthodoxie: politischer Fundamentalismus, heutiger Pan­sla­vis­mus, Neo-Eurasiertum, (christlich-)orthodoxer Kom­munismus und orthodoxer Nationalismus.

Im nächsten Abschnitt der Studie werden Ele­mente behandelt, die den genannten Gruppen in äußerlicher Hinsicht gemeinsam sind. Hier behandelt die Verfasserin Themen wie deren Rhe­torik und Symbolik, die bevorzugte Art der öffentlichen Darstellung (auf Plakaten, Bildern, in den Massenmedien, in der Literatur) sowie solche Dinge wie beliebte Treffpunkte bzw. Zentren und Kleidungstücke, die Gruppenhomo­ge­nität schaffen. Ein viertes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage nach der Religiosität der „politisch Orthodoxen“; hier wird gezeigt, dass viele Menschen, die einer der genannten Gruppierungen angehören, zentrale Lehren der Orthodoxie ablehnen und zumeist auch keine praktizierenden Christen sind, also Begriffe aus der orthodoxen Tradition zu eigenen Zwecken verwenden, ohne mit ihnen inhaltlich oder in ihrer Lebensgestaltung das zu verbinden, was diese Begriffe für die orthodoxe Kirche bedeuten. Anschließend wird die Beziehung der Vertreter solche Gruppen zur intellektuellen Klasse Russlands beschrieben, sowohl in ihrem eigenen Diskurs als auch in Bezug auf die etablierten akademischen Kreise.

Die Frage nach der Haltung der Kirche zu diesen Phänomenen steht im Mittelpunkt des vorletzten Kapitels. Für die Kirche stellt es ja eine besondere Herausforderung dar, wenn sich politische Gruppen auf die kirchliche Tradition berufen, sie aber ganz anders auslegen. Andererseits gibt es immer wieder Priester und zuweilen auch Bischöfe, die solche Gruppierungen unterstützen. Die Verfasserin beschreibt den Zugang der Kirche als pragmatisch, sieht aber den Trend, dass die Orthodoxie in Russland mehr und mehr zur Zivilreligion wird. Das abschließende Kapitel beleuchtet konkrete Aktivitäten solcher Organisationen, die sich außer auf Demonstrationen und publizistische Tätigkeit sehr stark (aber nicht nur) auf para- und vormilitärische Ausbildung konzentrieren. In politischer Hinsicht sind sie, soweit es die Wahlergebnisse betrifft, bedeutungslos. Eine Schlussbetrachtung rundet die Arbeit ab; hier macht die Verfasserin den Unterschied zwischen der „politischen Orthodoxie“ und der kanonischen, kirchlich verfassten Orthodoxie nochmals deutlich. Im Anhang finden sich neben der Bibliographie zahlreiche Abbildungen, die oft eindrucksvoll die Darstellungen aus dem Text ergänzen.

Die Studie stellt eine interessante und lesens­werte Untersuchung über ein Phänomen dar, das sonst relativ wenig Beachtung findet, zumal es ja auch politisch kaum eine Rolle spielt. Allerdings finden sich die Themen, auf die sich die Vertreter der „politischen Orthodoxie“ konzentrieren, häufig auch im Diskurs des politischen wie des kirchlichen Mainstreams. Der Unterschied liegt darin, dass die untersuchten extremen Gruppierungen diese Weltsicht als hermeneutisches Spektrum verwenden, durch das sie alle anderen Geschehnisse und Entwicklungen im In- und Ausland interpretieren. Trotz aller Prob­leme, die sich im Gespräch mit Russland auf vielen Ebenen immer wieder feststellen lassen, ist der offizielle politische wie auch der kirchliche Diskurs viel anschlussfähiger, oder bes­ser gesagt: Beide sind überhaupt anschlussfähig, im Gegensatz zu den Gruppen, die im be­sprochenen Band behandelt werden.

Bemerkenswert an dieser Arbeit ist die Untersuchung von Themen, die nicht zum intellektuell-ideologischen Bereich gehören, wie der „dress code“ oder beliebte Treffpunkte für Vertreter solcher Gruppierungen. Die Reaktion der Russischen Orthodoxen Kirche hätte einer systematischeren und ausführlicheren Analyse bedurft. Auch wenn die Verfasserin festhält, dass diese „Or­thodoxisierung“ des politischen Diskurses nicht von der Kirche bestimmt wird, sondern von interessierten Individuen, die oft nur sehr we­nig kirchlichen Bezug haben, so wäre doch eine Darstellung der kirchlichen Involvierung und auch Distanzierung wünschenswert gewesen. Doch auch trotz dieser kritischen Bemerkung handelt es sich um ein informatives, lesenswertes Buch.

Thomas Bremer, Münster

Zitierweise: Thoma Bremer über: Anastasia V. Mitrofanova The Politicization of Russian Orthodoxy. Actors and Ideas. With a foreword by William C. Gay. ibidem-Verlag Stuttgart 2005. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 13. ISBN: 3-89821-481-8, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bremer_Mitrofanova_Politicization.html (Datum des Seitenbesuchs)