Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 464‒465

Verfasst von: Thomas Bremer, Münster

 

Eva Maeder: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900 – 1930er Jahre). Zürich: Chronos, 2011. 301 S., 57 Abb. ISBN: 978-3-0340-1049-8.

Zwar hat es in den letzten Jahren einige Untersuchungen zur Mikrohistorie einzelner russischer Dörfer oder zu speziellen Aspekten des Provinzlebens gegeben, doch zeichnet sich die hier vorliegende Studie durch einige Besonderheiten aus, die sie zu einer interessanten Lektüre machen. Vor allem ist hervorzuheben, dass sich die Verfasserin mit einem Dorf in Transbaikalien beschäftigt hat, dessen Bewohner traditionell Altgläubige sind, die in der Regel (faktisch) der priesterlosen Richtung angehören, auch wenn sie sich vielfach gespalten haben und die Religiosität heute keine zentrale Rolle mehr spielt. Doch gerade im Untersuchungszeitraum, der durch die Wende der Religionspolitik von 1905, den Ersten Weltkrieg, die Revolutionen von 1917 und die fortschreitende Sowjetisierung geprägt ist, sollte die religiöse Zugehörigkeit des Dorfes eine wichtige Rolle spielenes ist also höchst interessant, sich einer solchen Gemeinschaft zuzuwenden.

Die Verfasserin hat ihre Untersuchung in sieben Kapitel gegliedert, deren erstes einleitenden Charakter hat und vor allem zu Fragestellung, Methode, Quellen und Forschungslage Stellung nimmt. Das darauffolgende stellt kurz, aber prägnant Charakteristika und Geschichte des russischen Altgläubigentums dar, insoweit sie für die Studie einschlägig sinddaher gibt es auch einen eigenen Abschnitt über die Geschichte des untersuchten Dorfes. Das dritte Kapitel beschreibt die soziale Struktur des Dorfes vor 1914; der Verdacht und oft auch Widerstand gegen alle Menschen und Institutionen, die einen anderen Glauben hatten, ist ein wichtiges Element in der Selbstverwaltung des Ortes. Der Erste Weltkrieg und der darauf folgende Bürgerkrieg bilden einen großen Einschnitt im Leben des Dorfes. Nach rasch wechselnden Regierungen, in denen die Dorfautoritäten strukturell weitgehend erhalten blieben, etablierte sich das Sowjetregime; in dieser Zeit war die Wirtschaftsleistung durch Kriegsabgaben erheblich abgesunken. DieNeue Ökonomische Politik, der das nächste Kapitel gewidmet ist, sollte das Vertrauen der Bevölkerung durch Hebung des Lebensstandards gewinnen helfen. Damit einher gingen die Stabilisierung des kommunistischen Systems undfür die altgläubigen Dorfbewohner besonders wichtig und folgenreichdie Intensivierung der antireligiösen Propaganda. Die Verfasserin zeigt anhand von reichhaltigem Material, wie die Bemühungen oft wenig gebildeter Agitatoren mit der traditionellen Religion und vor allem den von ihr geprägten Bräuchen zusammenstießen. Der Aufbau einer eigenen Dorfzelle der Partei war mit enormen Schwierigkeiten verbunden. Mit dem Abgehen von der NĖP durch den Versuch dersozialistischen Umgestaltungder Landwirtschaft und der kompletten Kollektivierung Ende der 1920er Jahre befasst sich das sechste Kapitel. Den Bauern war nun die Verfügungsgewalt über das von ihnen erwirtschaftete Getreide genommen; es wurde eingezogen. Zusammen mit derEntkulakisierungbedeutete die Zerstörung der Kirchengebäude eine wichtige Veränderung im Leben des Dorfes; hier geht die Verfasserin zuweilen auch mit aufschlussreichen Ausblicken über die 30er Jahre hinaus, die eigentlich die zeitliche Grenze für die Untersuchung bilden. Das letzte Kapitel ist mitSchlussfolgerungen und Ausblicküberschrieben; in ihm werden die Ergebnisse der Arbeit noch einmal in konziser Form zusammengefasst, und es wird gezeigt, wie Strukturen auch über Epochengrenzen und wichtige Einschnitte hinaus erhalten bleiben; zudem gibt es in den verschiedenen Systemen auch bleibende Elemente (etwa die schwierige Beziehung ZentrumPeripherie, die ja von konkreten Regierungsformen unabhängig ist). Doch hat die Festigung der Sowjetmacht auch einen Modernisierungsschub mit sich gebracht, der vor allem durch die Maßnahmen im Bereich der Bildung (Alphabetisierung, Gründung von Schulen) Wirkungen zeigte. Eine Tabelle mit der Entwicklung der Einwohnerzahl und der Zahl der Höfe im Dorf, ein Glossar und eine Bibliographie beschließen das Buch.

Der Verfasserin ist eine eindrucksvolle Studie gelungen, für deren Bearbeitung sie nicht nur auf reichhaltige Archivmaterialien aus Burjatien und Moskau zurückgegriffen und die Literatur rezipiert, sondern auch Interviews mit alten Dorfbewohnern (darunter einigen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren wurden) geführt hat. Die Darstellung ist flüssig lesbar und immer gut dokumentiert; die Gliederung auch der einzelnen Kapitel überzeugt, weil sie trotz der grundsätzlich chronologischen Vorgehensweise stets sachliche und systematische Aspekte hervorhebt und sich somit nicht auf eine Aufreihung von Geschehnissen und Entwicklungen beschränkt. Die immer wieder vorkommende Thematik der Religion ist von besonderem Interesse, da sich hier die Entwicklungen einer traditionellen Religiosität in all ihrer Komplexität (wovon die vielfältigen Spaltungen bereits vor der sowjetischen Verfolgung zeugen) in einer gesellschaftlichen Situation zeigen, in der die Religion nicht nur nicht toleriert, sondern bekämpft und verfolgt wird. Es ist höchst instruktiv, die Art und Weise beobachten und nachvollziehen zu können, auf die die Religion zunächst doch überlebt, sich anpasst und schließlich immer mehr an Bedeutung verliert. Die Verfasserin hat in ihrem Schlusskapitel Forschungsdesiderate zu den Altgläubigen überhaupt sowie zu der Region, in der sie geforscht hat, deutlich gemacht. Es ist zu wünschen, dass zu diesen Themen weitere Studien entstehen, und es wäre schön, wenn sie von ebensolcher Qualität wären wie die vorliegende.

Thomas Bremer, Münster

Zitierweise: Thomas Bremer, Münster über: Eva Maeder: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900 – 1930er Jahre). Zürich: Chronos, 2011. 301 S., 57 Abb. ISBN: 978-3-0340-1049-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bremer_Maeder_Altglaeubige.html (Datum des Seitenbesuchs)

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