Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 305-307

Verfasst von: Detlef Brandes

 

Valentina V. Mar’ina: Sovetskij sojuz i čecho-slovackij vopros vo vremja Vtoroj mirovoj vojny 1939–1945 g. V 2 knigach. [Die Sowjet­union und die tschechoslowakische Frage während des Zweiten Weltkrieges 1939–1945. 2 Bände.] Kniga [Band] 1: 1939–1941 gg. Moskva: Indrik, 2007. 445 S. ISBN: 978-5-85759-433-9. Kniga [Band] 2: 1941–1945 gg. Moskva: Indrik 2009. 431 S. ISBN: 978-5-91674-037-0.

Ungewöhnlich in Mar’inas zweibändiger Darstellung der sowjetischen Politik gegenüber der Tschechoslowakei ist, dass sie den gesamten ersten Band einer ausführlichen Untersuchung der Zeit zwischen dem Münchener Abkommen und dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion widmet. Gegenüber der Nachmünchener Tschechoslowakischen Republik, der sog. „Zweiten Republik“, nahm die Sowjetführung eine abwartende Haltung ein, da sie an ihrem Überleben zweifelte, doch zeigte sie starkes Interesse an der Weiterführung des wirtschaftlichen Austausches. Wünsche, etwa 2.000 sudetendeutsche Kommunisten aufzunehmen und damit vor der Verfolgung zu retten, behandelte sie dagegen dilatorisch. Nach der Okkupation Rumpf-Tschechiens im März 1939 erkannte die Sowjetunion die Slowakei de jure und das Protektorat Böhmen und Mähren de facto an und ließ die tschechoslowakische Gesandtschaft in Moskau schließen. Damit erreichten die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem tschechoslowakischen Exil einen Tiefpunkt. Der sowjetische Warenaustausch mit dem Protektorat und der Slowakei konnte aber unter deutscher Kontrolle fortgesetzt werden.

Mar’ina untersucht den Übertritt der seit August 1939 in Polen aufgestellten „tschechischen und slowakischen Legion“ in die sowjetische Okkupationszone Polens und – soweit ich sehe als erste – die Lebensbedingungen und die zunehmenden politischen Gegensätze unter den internierten Mitgliedern in Dörfern der Wolhynien-Tschechen und in sowjetischen Lagern. Während der kleinere Teil bleiben wollte und schließlich zur Kernzelle der tschechoslowakischen Ostarmee wurde, konnte der größere im Gegensatz zu ihren polnischen Leidensgenossen aufgrund der Eingaben ihres Kommandeurs Ludvík Svoboda und der Interventionen des Exils seit April 1940 in mehreren geheimen Transporten über Istanbul das ungastliche Land verlassen. Auch zu den geheimen Kontakten der sowjetischen und tschechoslowakischen Exil-Nachrichtendienste und besonders zu dem Verhältnis der Sowjetunion zur Slowakei, das sie schon in früheren Aufsätzen aus der Vergessenheit geholt hatte, steuert Mar’ina neue Informationen aus russischen Archiven bei.

Die Slowakei bildet überhaupt einen Schwerpunkt in ihrer gesamten Darstellung. Der slowakische Außenminister sah in der Sowjetunion ein Gegengewicht gegen Deutschland und hoffte auf ihre Unterstützung für die Rückgewinnung der Südslowakei, die Sowjetführung sah in der Gesandtschaft in Bratislava vor allem einen ergiebigen Beobachtungspunkt. Die Gesandtschaft berichtete in der zweiten Hälfte 1940 über den intensiven Ausbau militärischer Anlagen und Straßen in der Slowakei, rechnete aber noch Ende Mai 1941 nicht mit einem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Mar’ina kommt zu dem Schluss, dass Stalin in den Jahren 1939 bis 1941 die Position eines „Beobachters“ der Konflikte um die Tschechoslowakei nicht verlassen wollte.

Der zweite Band beginnt mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen. Mar’ina schildert einerseits die Aktionen der slowakischen Armee an der Seite der Wehrmacht und andererseits die Auseinandersetzungen um Aufbau, Einsatz und kommunistischen Einfluss auf die seit Juli 1942 entstehenden tschechoslowakischen Einheiten auf sowjetischem Boden. Die Sowjetführung torpedierte – schließlich erfolgreich – den tschechoslowakisch-polnischen Konföderationsplan. Im Falle der Moskauer Gespräche Benešs im Dezember 1943 kann Mar’ina das bekannte tschechische mit dem sowjetischen Protokoll vergleichen.

Weitere Themen sind die Entsendung kommunistischer Kader zum Aufbau von Partisaneneinheiten in die geteilte Tschechoslowakei. Mar’ina analysiert die Nachrichten, die Abgesandte aus der Slowakei nach Moskau brachten bzw. Partisanen und sowjetische Agenten nach Kiev schickten, die Position der Sowjet-, Komintern- und KSČ-Führung gegenüber dem geplanten slowakischen Aufstand, den Entscheidungsprozess um die sowjetische Unterstützung für die Aufständischen, das Scheitern des sowjetischen Durchbruchsversuchs am Dukla-Pass sowie die Konflikte zwischen den Partisanen und der slowakischen Aufstandsarmee.

Das Jahr 1945 stand im Zeichen der Konflikte um die Zukunft der Karpatenukraine und die tschechoslowakische Anerkennung der Warschauer anstelle der Londoner polnischen Exilregierung. Mar’ina untersucht Benešs Verhandlungen über die Zusammensetzung und politische Ausrichtung der Nachkriegsregierung im März 1945 in Moskau, wo Stalin Beneš zwang, der Annexion der Karpatenukraine in einem geheim gehaltenen Dokument zuzustimmen, sowie schließlich den Prager Aufstand und die sowjetische Ablehnung des Prager „Tschechischen Nationalrats“ wegen des zeitweisen Eingreifens einer Vlasov-Division zugunsten der Aufständischen. Mar’ina betont immer wieder, dass alle Entscheidungen, auch über Kleinigkeiten nicht ohne Weisungen Stalins getroffen werden konnten, die aber offenbar meist mündlich erfolgt seien.

V. V. Mar’ina verfolgt die sowjetisch-tschechoslowakischen Beziehungen auf der Basis der sowjetischen Akten in allen Einzelheiten. Außerdem hat sie Dokumente aus dem Slowakischen Nationalarchiv für ihre Darstellung ausgewertet. Leider bricht auch sie nicht mit der ärgerlichen sowjetischen Gewohnheit, nur Fundstellen und Seitenzahlen anzugeben, nicht jedoch den Charakter des zitierten Dokuments zu beschreiben. Diese Gewohnheit macht es oft unmöglich, Behauptungen wie beispielsweise über Stimmungen in der Bevölkerung auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu beurteilen. Zwar gibt es ein Personenregister, in dem jedoch die lateinische Schreibweise tschechischer Familiennamen fehlt. Dem ersten Band hat Mar’ina 84, dem zweiten 38 Dokumente beigefügt. Da sie die Sekundärliteratur – eine Liste der benutzten Werke fehlt – vielleicht aus sprachlichen Gründen nur ungenügend kennt, kann sie allerdings Behauptungen in sowjetischen Dokumenten wie etwa über die Flüchtlingspolitik der Westmächte oder die deutschen „Berater“ in der Slowakei nicht korrigieren und vor allem ihre eigenen Ergebnisse nicht mit dem Forschungsstand vergleichen.

Detlef Brandes, Berlin

Zitierweise: Detlef Brandes über: Valentina V. Mar’ina Sovetskij sojuz i čecho-slovackij vopros vo vremja Vtoroj mirovoj vojny 1939–1945 g. V 2 knigach. Kniga 1: 1939–1941 gg. [Die Sowjet­union und die tschechoslowakische Frage während des Zweiten Weltkrieges 1939–1945. 2 Bände. Band 1: 1939–1941]. Moskva: Indrik, 2007. 445 S. ISBN: 978-5-85759-433-9. Band 2: 1941–1945]. Moskva: Indrik 2009. 431 S. ISBN: 978-5-91674-037-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brandes_Marina_Sovetskij_sojuz_i_cecho-slovackij_vopros.html (Datum des Seitenbesuchs)

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