Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Detlef Brandes

 

Specėšelony idut na vostok. Istorija repressij protiv grekov v SSSR. Deportacii 1940-ch gg. [Spezialwaggons fahren in den Osten. Die Geschichte der Repressionen gegen die Griechen in der UdSSR. Die Deportationen der vierziger Jahre]. Sost. Ivanom G. Džuchoj. S.-Peterburg: Aletejja, 2008. 557 S., Tab., Ktn., zahlr. Abb. = Novogrečeskie issledovanija. ISBN: 978-5-91419-078-8.

Griechen lebten seit dem Altertum auf der Krim, von wo sie 1778 in die Azov-Region umgesiedelt wurden, sie suchten im 19. Jh. bzw. in und nach dem Ersten Weltkrieg Schutz in Russland, besonders in Georgien und in der nordkaukasischen Region Krasnodar. Seit 1929 gerieten sie zwischen die Mühlsteine der stalinistischen Nationalitätenpolitik (I. Abschnitt). Das Besondere am Schicksal der Griechen sieht Ivan Džucha in der großen Zahl von Deportationen. Mit der „griechischen Operation“ des Jahres 1937 gegen angebliche faschistische Banden wurden Hunderte von Griechen eingesperrt, verhaftet, ermordet und ihre Familien aus ihren Siedlungsgebieten am Schwarzen Meer von Odessa bis Novorossijsk ins Landesinnere umgesiedelt. Ein Jahr später mussten etwa 10.000 griechische Staatsbürger die Sowjetunion in Richtung Griechenland verlassen. Von der „Säuberung“ der Grenzgebiete von verdächtigen und „sozial gefährlichen Elementen“ im Jahre 1939 waren wiederum Griechen betroffen. Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurden mehrere ethnische Gruppen, die als „unzuverlässig“ deklariert wurden, unter ihnen Griechen, zur Vorbeugung gegen potentiellen Landesverrat nach Osten deportiert.

Das Schwergewicht der Darstellung liegt aber auf den drei großen Deportationswellen der Jahre 1942, 1944 und 1949 (II. Abschnitt). Als die Wehrmacht 1942 nach Südosten vorrückte, ließ das Regime Millionen von Menschen evakuieren, unter ihnen etwa 20.000 Griechen aus dem nördlichen und nordöstlichen Schwarzmeergebiet, deren Schicksal Džucha Ort für Ort beschreibt. Nach der Wiedereroberung dieser Gebiete im Jahr 1944 wurden ethnische Gruppen als ‚Vergeltung‘ für angebliche Kollaboration nach Osten abtransportiert. Auf der Krim traf dieses Los neben den Tataren, Armeniern und Bulgaren auch die mehr als 16.000 Griechen, wobei der NKVD den Betroffenen oft nur wenige Minuten zum Anziehen und Packen ließ. Auch die demobilisierten Soldaten dieser Gruppen durften nicht in ihre Heimat zurückkehren, sondern mussten sich auf die Suche nach ihren Angehörigen machen. Ehemalige Krimbewohner, die trotz des Verbots zurückkehrten, wurden gefasst und zu hohen Lagerstrafen verurteilt. Im Oktober 1946 lebten schon knapp 40.000 Griechen in den „Sondersiedlungen“ des NKVD im Uralgebiet, in Sibirien, Kasachstan und Zentralasien. Nach dem griechischen Bürgerkrieg nahm die Sowjetunion 12.000 Griechen auf und schickte sie nach Usbekistan. Noch 1949 wurden etwa 37.000 Griechen der Schwarzmeerküste, des Nordkaukasus und Transkaukasiens erneut Opfer von Zwangsumsiedlungen. Diese umfassendste Deportationswelle, meist nach Kasachstan, behandelt Džucha ausführlicher noch als die vorangegangenen. Er bringt auch zahlreiche Beispiele, wie sich Angehörige der jeweiligen Titularnation, besonders ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle ‚Elite‘, an dem konfiszierten Eigentum der Deportierten bereicherten.

Im III. Abschnitt schildert Džucha das Leben der Griechen in den „Sondersiedlungen“, das seit Kriegsende in zuerst kleinen Schritten erleichtert wurde. Džucha analysiert die Rechte und die Tätigkeit der Aufsichtsorgane, die Überwachung durch Agenten, die Fluchtversuche und hohen Haftstrafen, unterteilt in die einzelnen Regionen und Provinzen. Die schwere Zwangsarbeit in Bergwerken, Fabriken und der Landwirtschaft sowie die unzureichende Ernährung und medizinische Betreuung kosteten vielen Sondersiedlern, besonders in den ersten Jahren der Verbannung, das Leben. 1956 wurde ihr Sonderstatus aufgehoben und erst 1972 erhielten sie die Erlaubnis der freien Ortswahl.

Die wesentlichen Fakten über die Deportationen sind aus Nikolaj Bugajs Arbeiten bekannt, die er zuletzt für das „Lexikon der Vertreibungen“ zusammengefasst hat (Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst. Wien 2010, S. 269‒272). Džuchas Darstellung, in der die Ereignisse möglichst genau und an allen Orten untersucht werden, wendet sich offensichtlich vor allem an Leser aus den Massen der Betroffenen und ihre Nachkommen. Džucha hat Archive in Russland und Kasachstan nach Dokumenten über das Schicksal der Griechen durchforstet und vor allem eine außergewöhnlich große Zahl von Erlebnisberichten ausgewertet und gesammelt. Diese Zeugenaussagen setzt Džucha ein, um das Vorgehen der Staats- und Parteiorgane sowie die Verluste und Leiden ihrer Opfer und die Versuche der Selbstbehauptung anschaulich zu machen. Wie auch in zahlreichen Darstellungen zur Deportation der Russlanddeutschen wird auch in Džuchas Werk der Patriotismus der Griechen als Soldaten und Partisanen dem Vorwurf des Landesverrats entgegen gesetzt. Als die Repressionen selbst nach dem Sieg andauerten, häuften sich Meldungen über eine wachsende antisowjetische Stimmung unter den griechischen „Sondersiedlern“. Auch ließen sie sich nicht immer alles gefallen: Im Juli 1944 wehrten sich Griechen, die entgegen den Versprechungen des NKVD nicht in die Ukraine oder in den Nordkaukasus, sondern nach Usbekistan transportiert worden waren, eine Woche lang gegen ihre Aufteilung auf usbekische Kolchosen. Auch 1949 weigerte sich Griechen eines Transports, in der Wüste Südkasachstans auszusteigen und forderten, wieder ohne Erfolg, die Weiterfahrt nach Taškent oder Alma-Ata.

Detlef Brandes, Berlin

Zitierweise: Detlef Brandes über: Specėšelony idut na vostok. Istorija repressij protiv grekov v SSSR. Deportacii 1940-ch gg. [Spezialwaggons fahren in den Osten. Die Geschichte der Repressionen gegen die Griechen in der UdSSR. Die Deportationen der vierziger Jahre]. Sost. Ivanom G. Džuchoj. S.-Peterburg: Aletejja 2008. = Novogrečeskie issledovanija. ISBN: 978-5-91419-078-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brandes_Dzucha_Speceselony_idut_na_vostok.html (Datum des Seitenbesuchs)

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