Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 453-455

Verfasst von: Nada Boškovska

 

Alexandra Oberländer: Unerhörte Subjekte. Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880–1910. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2013. 359 S., Abb. = Geschichte und Geschlechter, 63. ISBN: 978-3-593-39957-7.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Befund, dass sich ab 1907 in den Zeitungen des Zarenreichs Meldungen über sexuelle Gewalt auffällig häuften. In ihrer Dissertation geht Alexandra Oberländer der Frage nach, aus welchen Gründen solche Gewalttaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffentliches Interesse weckten. Sie untersucht, was als sexuelle Gewalt angesehen wurde, wer sich dafür interessierte und welche Vorstellungen von Opfern und Tätern existierten. Ihre These ist, dass sich zwischen 1880 und 1910 die Wahrnehmung sexueller Gewalt grundlegend veränderte.

Als sexuelle Gewalt betrachtet die Autorin „alle denkbaren sexuellen Praktiken von Männern gegen Frauen oder Mädchen“ (S. 25). Gegen eine Einschränkung auf die weiblichen Opfer ist grundsätzlich nichts einzuwenden, allerdings hätte man sich eine ausführlichere Begründung gewünscht als den einen Satz in einer Fußnote („Getragen ist diese Entscheidung von der Prämisse, dass sexuelle Gewalt gegen Jungen und Männer in dieser Zeit deutlich anders interpretiert wurde.“ S. 31, Anm. 68).

Die Autorin legt ihrer Untersuchung eine breite Quellenbasis zugrunde. Da es um die Wahrnehmung geht, stehen Zeitungen im Vordergrund, in erster Linie Petersburger Blätter. Daneben werden aber auch Akten, Bilder, forensische Protokolle, psychiatrische Gutachten und nicht zuletzt Romane beigezogen. Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Vier davon widmen sich in chronologischer Reihenfolge exemplarisch Fällen von sexueller Gewalt, um anhand dieser Beispiele den veränderten Umgang mit solchen Gewalttaten aufzuzeigen. Im fünften Kapitel geht es um die Wahrnehmung der Täter nach 1907.

Die detaillierte Untersuchung der Fälle anhand unterschiedlicher Quellen zeigt zum einen die zunehmende Bedeutung des neuen Feldes der psychischen Krankheiten, von denen sich die Öffentlichkeit fasziniert zeigte. Oberländer betont die herausragende Bedeutung der Zeitungen, insbesondere der Boulevardblätter, welche diese Neugier weckten und bedienten und Konzepte aus den neu entstehenden Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Kriminalistik popularisierten. Besondere Aufmerksamkeit erregten Fälle, in denen soziale Grenzen überschritten wurden.

Eine zentrale Rolle spielten von Anfang an Gerichtsmediziner, welche die Hoheit über die Körper der Opfer einforderten und deren Befunde bei der Wahrheitsfindung am schwersten wogen. Gegen Ende der untersuchten Periode kam dem Geisteszustand der Täter ein großes Gewicht zu, sodass psychiatrischen Expertengutachten einen hohen Stellenwert hatten.

In der Reihe der Fallbeispiele nimmt dasjenige der 21-jährigen Attentäterin Marija Spiri­donova eine besondere Stellung ein. In einem aus dem Gefängnis geschmuggelten privaten Brief deutete sie an, im Gewahrsam vergewaltigt worden zu sein. In zahlreichen Leserbriefen, v.a. von Frauen, manifestierte sich große Empörung über dieses Verbrechen. Warum diese eine Gewalttat in den Brutalitäten der Revolutionsjahre 1905–1907 so viel Empörung auslöste, deutet Oberländer aus der Ikonographie zu diesem Fall. In einer überzeugenden Analyse von Text- und Bildquellen kann sie zeigen, dass das Schicksal Spiridonovas mit jenem Russlands in dieser gewalttätigen Zeit gleichgesetzt wurde: Die demokratische russische Nation sei vom autokratischen Staat in gleicher Weise geschunden worden wie die junge Frau durch die Polizisten. Konkret war es offensichtlich so, dass bei den staatlichen Strafaktionen viele Frauen und Mädchen jeden Alters vergewaltigt wurden. Da Spiridonova einen besonders brutalen Vollstrecker von Strafexpeditionen getötet hatte, wurde sie von vielen als Rächerin verehrt. Die Revolution von 1905 wurde, wie Oberländer betont, von der von ihr untersuchten städtischen Gesellschaft als eine große moralische Krise gedeutet. Im Empfinden vieler Zeitgenossen ging die Epidemie der Gewalt auch nach 1907 weiter in Form von sexueller Gewalt, Rowdytum, Selbstmorden.

Wie Oberländer darlegt, häuften sich nach der Revolution in der Presse die Meldungen über Gewalt von in der Regel wohlsituierten Männern gegen arme Mädchen. Im vierten Kapitel, dessen Ausgangspunkt ein Kinderschänderprozess aus dem Jahr 1908 ist, zeigt die Verfasserin, wie sich die Perspektive jedoch wandelt und Opfer zu Täterinnen gemacht werden: Wenn die Mädchen durch die erlittene Vergewaltigung erst einmal verdorben waren, fanden sie Gefallen am lasterhaften Leben und betätigten sich als Kinderprostituierte. Als solche wurden sie zu einer ernsten Gefahr für die Gesellschaft, indem sie Männer in Versuchung führten und zu abscheulichem Tun animierten.

Das fünfte Kapitel widmet sich der Wahrnehmung der Täter nach 1907. Oberländer kann zeigen, wie nun, anders als 1880, Sex mit Kindern als pathologisch angesehen wurde. Die Degenerationstheorie erfuhr breite Rezeption, Begriffe wie Pathologie, Pädophilie und Degeneration selbst fanden über die Zeitungen ihren Weg in die Öffentlichkeit. Im Fokus standen dabei die höheren sozialen Schichten. Die typischen Pädophilen – und das gab Anlass zu großer Sorge – entstammten in der Darstellung der Medien diesen Klassen, hatten eine entsprechende Stellung, waren kultiviert und arbeiteten oft mit Kindern. Nur sie galten als pathologisch, als Opfer ihrer krankhaften Triebe. Täter aus den unteren Schichten wurden hingegen als „Bestien“ dargestellt (zver’) und interessierten kaum; ihre Taten waren ein moralisches Problem, kein gesundheitliches. Sexuelle Gewalt der Oberschicht wurde als eine negative Begleiterscheinung der Modernisierung verstanden, bei den Unterschichten hingegen als Ausdruck von Rückständigkeit.

Etwas überraschend benennt die Autorin im Schlusswort als die wichtigste Erkenntnis ihres Buches: „Der Subjektstatus ist es, der Frauen so angreifbar macht.“ (S. 326). Denn sexuelle Gewalt kann nur dann den Kern eines Menschen angreifen, wenn sich dieser – mit Foucault gesprochen – über den sexe konstituiert; erst dann wird sexuelle Gewalt auch traumatisierend. Zwar wird die Sexualität als Kern des modernen Subjekts schon früh angesprochen (S. 36), aber im Hauptteil wird dieser Zusammenhang nicht systematisch verfolgt.

Insgesamt hat Alexandra Oberländer eine quellennahe und lebendige Darstellung vorgelegt, welche die Änderungen in der Wahrnehmung sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Fin de siècle Russlands schlüssig aufzeigt und in der gesellschaftlichen Entwicklung verortet. Was dem Buch gut getan hätte, wäre ein rigoroseres Lektorat gewesen, um Wiederholungen zu eliminieren, die Erzählung zuweilen zu straffen sowie kleinere sprachliche und stilistische Mängel zu beheben.

Nada Boškovska, Zürich

Zitierweise: Nada Boškovska über: Alexandra Oberländer: Unerhörte Subjekte. Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880–1910. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2013. 359 S., Abb. = Geschichte und Geschlechter, 63. ISBN: 978-3-593-39957-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boskovska_Oberlaender_sexuelle_Gewalt_Russland_1880-1910.html (Datum des Seitenbesuchs)

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