Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 654-656

Verfasst von: Nada Boškovska

 

Barbara Evens Clements: A History of Women in Russia. From Earliest Times to the Present. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2012. XXV, 386 S., Abb. ISBN: 978-0-253-00097-2.

Die emeritierte amerikanische Historikerin Barbara Evans Clements ist eine Pionierin der russischen und sowjetischen Frauengeschichte. Ihre Auseinandersetzung mit dem Thema begann in den frühen siebziger Jahren mit ihrem Interesse für Aleksandra Kollontaj. In der Folge entwickelte sich Clements zu einer Spezialistin für die Rolle der Frauen in der Revolution und im bolschewistischen Staat. Sie publizierte zahlreiche Aufsätze und Monographien zu diesem Zeitraum, war aber auch immer wieder an der Edition von epochenübergreifenden Sammelbänden beteiligt. Nun hat sie mit ihrem neuesten Buch einen Überblick über die Geschichte der Frauen in Russlandvon der frühesten Zeit bis in die Gegenwartvorgelegt. In einer bewundernswerten Leistung führt sie die Forschung zum Thema zusammen und stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, nebst der zeitlichen Tiefe auch der ethnischen Vielfalt des Russländischen Reiches Rechnung zu tragen.

In acht Kapiteln, die in etwa der üblichen Periodisierung der Geschichte Russlands folgen, wird zunächst jeweils kurz die allgemeine politische und sozioökonomische Entwicklung skizziert, um dann näher auf die Rolle der Frau einzugehen. Untersucht wird, welche Stellung die Frauen in Familie und Gesellschaft hatten, wie sich diese in Abhängigkeit von Alter, Ethnizität, Zivilstand, Religion und sozialer Zugehörigkeit unterschied, welche Handlungsspielräume Frauen ausschöpfen konnten, und letztlich, welchen Einfluss sie auf die Geschichte Russlands ausübten. In jedem Kapitel werden exemplarisch Frauen näher vorgestellt, in den meisten Fällen sind es prominente Persönlichkeiten wie die Fürstin Olga, die Bojarin Morozova, Katharina II., Aleksandra Kollontaj oder für die neueste Zeit Julija Timošenko.

Das Buch möchte einen breiteren Kreis von Leserinnen und Lesern ansprechen, es herrscht ein deskriptiver, erzählender Ton vor, der auch weniger präzise Aussagen in Kauf nimmt, etwa wenn es heißt:The Russians were more insistent on getting people married and keeping them that way than were many other peoples in Europe.(S. 102)

Für die Kiever Rusweist die Verfasserin auf die vielen Ähnlichkeiten mit dem übrigen Europa hin; bei den Unterschieden hebt sie die Tatsache hervor, dass in der Rusdie Mitgift der Frauen nicht in den Besitz des Mannes überging. Die gedrängte Form führt dazu, dass die Aussagen nicht immer genügend differenziert werden können. So schreibt die Autorin, dass die orthodoxe Kirche so gut wie keine Scheidungen zugelassen habe. In der Praxis war es jedoch so, dass bis weit ins 17. Jahrhundert hinein sehr viele Ehen gewohnheitsrechtlich, d.h. ohne kirchliche Trauung geschlossen und somit auch wieder ohne Zutun der Kirche aufgelöst werden konnten. Zum andern gab es sehr wohl auch von der Kirche anerkannte Scheidungsgründe.

Der zunächst einleuchtende chronologische Aufbau und das Bestreben, für jede Periode alle in den Fokus genommenen Aspekte darzustellen, führen zwangsläufig zu Wiederholungen. Das gilt etwa für die Schilderung der Aufgabenbereiche und der Lebensweise der Bäuerinnen, die sich über Jahrhunderte wenig veränderten. Es stellt sich deswegen die Frage, ob eine zumindest teilweise thematische Gliederung nicht sinnvoller gewesen wäre.

Ein schwerwiegender Mangel des Werkes ist die Tatsache, dass nur Literatur aus dem englisch- und russischsprachigen Raum verwendet wurde. Die nicht unbedeutende deutschsprachige Forschung zum Thema hat die Autorin nicht rezipiert. Sonst wüsste sie, dass man in Prozessakten des 17. Jahrhunderts durchaus Informationen zu den städtischen Frauen findet. So aber vertritt sie die Meinung, hinsichtlich sozial tiefer gestellter Frauen sei man nur über die Sklavinnen einigermaßen informiert, was damit zu tun hat, dass Richard Hellie 1982 über die Sklaverei im Moskauer Reich geschrieben hat. Auch das Bild, das sie von der hochgestellten Frau wiedergibt, entspricht nicht dem aktuellen Forschungsstand, kann doch nicht mehr davon gesprochen werden, dass die adeligen Frauen eingesperrt gewesen seien.

Mit der gewaltigen Expansion des Moskauer Reiches seit dem 16. Jahrhundert kamen zahllose nichtslavische Völker unter die Herrschaft der Zaren. Zu diesem Vorgang gibt es von Andreas Kappeler das StandardwerkRussland als Vielvölkerreich(seit 2001 auch auf Englisch erhältlich). Dessen Rezeption hätte zu einer differenzierteren Darstellung von Kontakt und Konflikt zwischen den Einheimischen und den Eroberern führen können. So ist eine reine Opfergeschichte entstanden, die Clements zudem nur auf wenigen Seiten andeuten kann. Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Situation der nichtrussischen Frauen wäre eine große Aufgabe für sich.

Kapitel 3 (1695–1855) betont den erweiterten Spielraum der adeligen Frauen im 18. Jahrhundert als Folge von Peters Reformen und v. a. durch den Ausbau der Mädchenbildung. Die hervorragenden Eigentumsrechte der Frauen und deren rechtliche Handlungsfähigkeit waren im europäischen Vergleich (weiterhin) einzigartig. Allerdings lebte der größte Teil der Bevölkerung im Zustand der Leibeigenschaft. Dies änderte sich nach 1861, ohne dass dies allerdings große Auswirkungen auf die Lebensweise der Bäuerinnen gehabt hätte. Erst die einsetzende Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts brachte gewisse Veränderungen.

Die Reformen ab 1861 (Kapitel 4: 18551914) und der weitere Ausbau des Bildungssystems führten auch unter den Frauen zu einer Bildungselite und zu Berufstätigkeit einerseits, zu revolutionären Aktivitäten andererseits. Das Kapitel 5 über die Aktivistinnen in der Zeit von 18901930 deckt das wichtigste eigene Forschungsgebiet der Autorin ab. Sie legt dar, dass in dieser Phase die Frauen ihre Präsenz und ihren Einfluss in sehr unterschiedlichen Sphären verstärken konnten. Buchstäblich in allen Bereichen von Religion über Philanthropie, Kunst, Kultur und Publizistik bis zur Wissenschaft wurden zahllose Frauen aktiv. In der revolutionären Bewegung spielten sie bekanntermaßen eine wichtige Rolle und waren dort weit stärker vertreten als im westlichen Europa.

Für die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeigt die Autorin die widersprüchliche Situation der Frauen auf. Zum einen spielten, wie Clements betont, mehr als in jedem anderen Land Aktivistinnen eine wichtige Rolle beim enormen gesellschaftlichen Wandel, der eine weltweit beispiellose rechtliche Emanzipation der Frauen brachte. Andererseits war die frühe Sowjetzeit von erheblicher weiblicher Arbeitslosigkeit und vom Fehlen versprochener Einrichtungen wie Krippen geprägt. Bedauerlich ist, dass auch für die in den Kapiteln 4 und 5 behandelten Zeiträume wichtige deutschsprachige Publikationen, etwa von Bianka Pietrow-Ennker, Beate Fieseler und Carmen Scheide, keine Berücksichtigung gefunden haben (Pietrow-Ennker, Bianka: Russlands „neue Menschen“. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution. Frankfurt/Main [u.a.] 1999; Fieseler, Beate: Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890–1917. Eine kollektive Biographie. Stuttgart 1995; Scheide, Carmen: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Zürich 2002.).

Die Zeit des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs war von einer beispiellosen Einbindung der Frauen in den Arbeitsprozess und an der Heimatfront gekennzeichnet. Auf dem Hintergrund der großen Entbehrungen am Anfang dieser Periode heißt das 7. Kapitel, das die Nachkriegsphase bis zum Zerfall der UdSSR behandelt, Making better lives. Die Autorin betont die Urbanisierung und die verbesserten Lebensverhältnisse, von denen ein Aspekt der weibliche Bildungsboom war. Bereits in den siebziger Jahren war die Hälfte der Studierenden weiblich, der Dienstleistungssektor kam immer mehr in Frauenhand. Zudem arbeiteten sehr viele Frauen als Ärztinnen, Architektinnen, Richterinnen, Professorinnen etc., während im Westen diese Bereiche noch klare Männerdomänen waren. Aber bei allen Erfolgen der Frauen auf den mittleren Ebenenauch in der Sowjetunion waren die einflussreichsten Positionen Männern vorbehalten, was sich nicht zuletzt in der völligen Absenz von Frauen in den höchsten politischen Ämtern zeigt. In der Nachkriegszeit konnte angesichts der verbesserten Lebensbedingungen endlich auch die Doppelbelastung thematisiert werden, die in zahlreichen Studien präzis nachgewiesen wurde. Der Staat unternahm wachsende Anstrengungen, um die Frauen zu entlasten, investierte in Krippen, baute den Mutterschaftsurlaub und soziale Einrichtungen aus. Die chronische Mangelwirtschaft machte allerdings viele Anstrengungen zunichte, denn es blieb für die Frauen überaus zeitintensiv und anstrengend, die täglichen materiellen Bedürfnisse der Familie zu befriedigen.

Die postsowjetische Phase brachte zunächst große Härten für die Frauen. Bei Fabrikschließungen wurden sie als erste entlassen, und sie begegneten im Arbeitsleben Diskriminierung. Soziale Einrichtungen mussten schließen, und die Preise für den Lebensunterhalt schossen in die Höhe. Pornographie und Prostitution, in der Sowjetzeit unterdrückt, breiteten sich aus.

Die Frage nach der Rolle der Frau unter den neuen Umständen wurde in unterschiedlicher Weise beantwortet. Während dieFeministinnenGleichberechtigung und das Ende von Diskriminierung forderten, waren dieMaternalistinnender Überzeugung, dass die Frauen andere Aufgaben hätten als die Männer und sich von der Erwerbsarbeit abwenden und dem Aufziehen der Kinder zuwenden sollten. In den politischen Gremien sank der Frauenanteil erheblich. 2003 waren weniger als 10 % der Mitglieder der Duma weiblich, einzelne prominente Figuren wie Julija Timošenko und Kazimiera Prunskiene ändern nichts daran. Nach Jahrzehnten der Doppelbelastung unter schwierigen Lebensbedingungen, meint die Autorin, wünschen sich viele Frauen vor allem genug Einkommen für ein sorgenfreies Leben.

Als Fazit betont die Verfasserin, dass das Leben der Frauen in Russland meistens jenem anderer Frauen auf dem Kontinent ähnlich war. Unterschiede sieht sie vor allem als Folge der ungünstigen geographischen Gegebenheiten, die beispielsweise dazu führten, dass das Leben härter und unsicherer war. Der auffälligste Unterschied ist, dass in der gesamten behandelten Zeit, anders als in Westeuropa, die Frauen in Russland ausgezeichnete Eigentumsrechte und rechtliche Handlungsfähigkeit besaßen. Das ist ein Traditionsstrang, der so gar nicht in den Rückständigkeitsdiskurs passt und der eine nähere Betrachtung verdienen würde.

Nada Boškovska, Zürich

Zitierweise: Nada Boškovska über: Barbara Evens Clements: A History of Women in Russia. From Earliest Times to the Present. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2012. XXV, 386 S., Abb. ISBN: 978-0-253-00097-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boskovska_Clements_A_History_of_Women_in_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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