Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 2016), H. 4, S. 687-689

Verfasst von: Eva Binder

 

Aglaia Wespe: Alltagsbeobachtung als Subversion. Leningrader Dokumentarfilm im Spätsozialismus. Göttingen: V&R unipress, 2014. 279 S., 26 Abb. = Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe, 1. ISBN: 978-3-8471-0299-1.

Im Mittelpunkt dieses ersten Bandes der Reihe Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas stehen drei kurze, zwischen 1968 und 1979 in Leningrad entstandene Dokumentarfilme: Vsego tri uroka (Nur drei Schulstunden; 1968) unter der Regie von Petr Mostovoj, Tramvaj idet po gorodu (Die Straßenbahn fährt durch die Stadt; 1973) der Regisseurin Ljudmila Stanukinas und Naša mama – geroj (Unsere Mutter – ein Held; 1979) von Nikolaj Obu­cho­vič. Dabei handelt es sich um drei herausragende Dokumentarfilme ihrer Zeit, realisiert von drei namhaften Filmemachern, deren dokumentarisches Herangehen den internationalen Erneuerungsbewegungen des amerikanischen direct cinema und des französischen cinéma vérité nahesteht. Die drei Regisseure des Leningrader Dokumentarfilmstudios verbindet der Versuch, den sowjetischen Dokumentarismus von seiner primären Funktion der politischen Propaganda zu befreien und – im Sinne des Tauwetterkinos der sechziger Jahre – den ‚gewöhnlichen‘ Menschen in seiner Vielschichtigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Gleichzeitig sind diese Dokumentarfilmer vom künstlerischen Gestaltungswillen des Autorenkinos inspiriert und arbeiten gegen die dokumentarischen Darstellungskonventionen, die für die Wochenschau und andere Spielarten der so genannten Filmchronik charakteristisch sind. Mit der Umbenennung des Leningrader Studios von Leningradskaja studija kinochroniki (Leningrader Wochenschaustudio) in Leningradskaja studija dokumental’nych fil’mov (Leningrader Dokumentarfilmstudio) im Jahr 1968 war daher eine programmatische Neuorientierung verbunden, die sich unter den Bedingungen der sowjetischen Zensur freilich nur zum Teil realisieren ließ und Filmverbote nach sich zog.

Die bislang außerhalb Russlands nur wenig beachtete Geschichte des Leningrader Dokumentarfilmstudios steht jedoch nicht im Zentrum der von Aglaja Wespe vorgelegten Monographie. Das Interesse der Historikerin gilt vielmehr der Alltagsgeschichte, die sie anhand der Dokumentarfilme zu ergründen versucht. Dabei betrachtet sie die der Alltagsbeobachtung verpflichteten Filme als Manifestationen von Widerspenstigkeit gegen das System, d. h. gegen das, was politisch, ideologisch und gesellschaftlich in den offiziellen sowjetischen Medien der siebziger Jahre darstellbar war. Im Mittelpunkt der Interpretation steht damit die Frage, „welche Formen von Affirmation, Subversion oder Verweigerung in den Leningrader Dokumentarfilmen gesehen werden können“ (S. 18). Mit dieser Fragestellung passt die von Heiko Haumann betreute und an der Universität Basel eingereichte Dissertation auch genau in die neu gegründete Reihe Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas, die von Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner, Claudia Kraft, Julia Obertreis, Stefan Rohdewald und Frithjof Benjamin Schenk herausgegeben wird. Der inhaltliche Schwerpunkt der Reihe besteht, wie das Herausgebergremium in seinem der Monographie von Wespe vorangestellten Vorwort vermerken, in „kulturwissenschaftlich ausgerichtete[n] Arbeiten, die etwa Identitäten oder Repräsentationen in den Vordergrund stellen“ oder „Fragen nach Alltagserfahrungen, konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen oder Gründen, Formen und Folgen sozialer Ungleichheiten“ nachgehen (S. 10).

Die Arbeit von Aglaja Wespe macht deutlich, welche Konsequenzen der cultural turn für die Geschichtswissenschaft mit sich bringt, bedeutet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit – im Fall von Wespe – filmischen Repräsentationen doch ein hohes Maß an Interdisziplinarität. Dieser Herausforderung begegnet Wespe mit einer Kombination unterschiedlicher Theorien und Methoden der Geisteswissenschaften, wie bereits aus der Kapitelgliederung des Buches deutlich wird. So steckt Wespe in den ersten beiden Kapiteln das breite akademische Feld ab, das es zu durchqueren gilt, um die drei Dokumentarfilme zu interpretieren und mit der historischen Wirklichkeit des Spätsozialismus zu verknüpfen. Das dritte und letzte Kapitel ist schließlich der Interpretation und Kontextualisierung der drei ausgewählten Filme gewidmet.

Im ersten Kapitel, das mit Methoden überschrieben ist, legt Wespe mit beachtenswerter Stringenz für die eigene Arbeit relevante theoretische Zugänge und Analysemethoden dar, wie die Dichte Beschreibung von Clifford Geertz, Erkenntnisse der Gender Studies über die Wirkungsweisen binärer Oppositionen und die Reproduktion geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen oder auch die Methoden und das Erkenntnispotenzial der oral history. Darüber hinaus diskutiert sie unterschiedliche Zugänge zum Film wie Filmsemiotik und strukturale Filmanalyse, Ikonographie und Ikonologie oder methodische und theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Dokumentarfilm und Realität aus dem Bereich der Ethnologie.

Im zweiten Kapitel mit dem Titel Historische Bezüge setzt sich die Autorin mit sozial- und alltagsgeschichtlich relevanten Fragen auseinander und lotet die komplexen Zusammenhänge von parteistaatlicher Öffentlichkeit, informellen öffentlichen Räumen, Alltagsnormen und Privatsphäre in der Brežnev-Zeit aus. In Ergänzung dazu erläutert Wespe den filmhistorischen Kontext, indem sie Eckpunkte der Dokumentarfilmgeschichte herausgreift wie die Arbeiten des sowjetischen Dokumentarfilmregisseurs Dziga Vertov oder den Einsatz von Synchronton und versteckter Kamera in den sechziger Jahren. Ein letzter Abschnitt ist dem Leningrader Dokumentarfilmstudio gewidmet, wobei Wespe wegen des weitgehenden Fehlens wissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema auf das Erinnerungsinterview zurückgreift. Auf der Basis der im Text selbst sowie im Anhang dokumentierten Gespräche, die sie mit den Regisseuren und Regisseurinnen der interpretierten Filme sowie mit zwei weiteren Filmschaffenden führte, gewinnt Wespe Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Filme, in die Arbeitsatmosphäre im Studio, in die Funktionsweisen der staatlichen Zensur oder aber auch in die Diskriminierung jüdischer Filmemacher in der „Stagnationszeit“ (wobei der letzte Aspekt für das Thema der Arbeit nicht wirklich relevant erscheint).

Im dritten Kapitel wird, basierend auf einer eingehenden formalen Analyse von Bildmotiven und Kameraführung sowie von Montage und Ton, jeder der drei Filme in der historischen Wirklichkeit kontextualisiert und auf sein subversives Potenzial hin befragt. Anhand von Vsego tri uroka diskutiert Wespe den schulischen Alltag der „Stagnationszeit“ unter Berücksichtigung der stalinistischen kulturellen Praxis der „Selbstkritik“ und lotet das Maß an „Eigensinn“ aus, das der Film (wie auch die Lehrerin) den Schüler/innen zugesteht. Die im Dokumentarfilm Tramvaj idet po gorodu porträtierte Leningrader Straßenbahnfahrerin und die gezeigte Straßenbahnfahrt durch die Stadt nimmt Wespe zum Anlass, um weibliche Rollenbilder zu diskutieren und nach der idealisierten Darstellung des öffentlichen Verkehrs im Film zu fragen. Im Unterschied zum romantisch-lyrischen Großstadtfilm Tramvaj idet po gorodu, dessen Widerstandspotenzial Wespe „zwischen Affirmation und Verweigerung“ ansiedelt, steht die nicht systemkonforme Darstellung im dritten Film, Naša mama – geroj über eine Weberin und Heldin der Arbeit, von vornherein außer Frage, da der Film seinerzeit verboten wurde und erst im Jahr 1989 erstmals gezeigt werden konnte.

Das Verdienst von Wespes Studie liegt zweifelsohne in der Interdisziplinarität und in dem mutigen Unterfangen, sich an ein Thema zu wagen, dessen materielle Basis – die Filme – zu Beginn der Arbeit nur schwer zugänglich war (mittlerweile sind die drei Filme auf YouTube abrufbar). Anhand von Vsego tri uroka gelingt es der Autorin auch, das Potenzial einer Filmanalyse aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, die „einen Film auf Zeichen seiner Zeit hin“ (S. 26) untersucht, zu demonstrieren. Die Schwächen von Wespes Herangehen werden jedoch in den anderen beiden Filminterpretationen deutlich, wenn dokumentarische Alltagsszenen vor allem als Anlass dienen, um bereits bekannte Phänomene des Spätsozialismus zu beschreiben. So werden beispielsweise die mit versteckter Kamera gemachten Aufnahmen von Straßenbahn-Passagieren dafür herangezogen, um die Mehrfachbelastung der Frauen (müde Frauengesichter) oder die Medienkultur der Brežnev-Zeit (Zeitungsleser) zu thematisieren. Dabei entsteht unweigerlich eine Diskrepanz zwischen der konkreten Darstellung im Film und dem, was diese Darstellung über den sowjetischen Alltag aussagt und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können. Anstatt sich auf drei kurze Dokumentarfilme zu beschränken und dies mit dem „aufwendigen Interpretationsvorgehen“ – der Erstellung von Sequenz- und Einstellungsprotokollen – zu begründen (S. 22), wäre daher wohl zielführender gewesen, andere Filme aus der Zeit – Dokumentar- und Spielfilme gleichermaßen – in die Analyse mit einzubeziehen. Dabei wäre beispielsweise im Fall von Vsego tri uroka an die Schulfilme der sechziger und siebziger Jahre zu denken, in Bezug auf Naša mama – geroj an das Genre des Produktionsfilms oder aber auch an andere, zeitgleich entstandene Dokumentarfilme wie Aleksandr Sokurovs ebenfalls verbotenen Dokumentarfilm Marija.

Besonders problematisch erscheint jedoch Wespes Ansatz einer „Kombination von Filminterpretation und Befragung von Zeitzeug_innen“ (S. 254), der darauf hinausläuft, die im Dokumentarfilm dargestellte Realität auf ihr Verhältnis zur historischen Wirklichkeit hin zu überprüfen. Dies geschieht mit Hilfe von relativ zufällig gewählten Zeitzeugen, die die Filme anschauen und kommentieren – bei Wespe sind dies ein Ingenieur, eine Reiseleiterin und eine Lehrerin für russische Sprache und Literatur. Ein derartiges Herangehen stellt nicht nur die eigenen theoretischen Ausführungen zur „Konstruktion der filmischen Wirklichkeit“ (S. 121) in Frage, sondern setzt sich letzten Endes auch über das künstlerische Programm des Leningrader Dokumentarfilmstudios hinweg, das der Dokumentarfilmer Viktor Semenjuk einmal so formuliert hat: „Wir sagten, es gibt keinen Inhalt. In der Kunst gibt es nur eine Form.“

Eva Binder, Innsbruck

Zitierweise: Eva Binder über: Aglaia Wespe: Alltagsbeobachtung als Subversion. Leningrader Dokumentarfilm im Spätsozialismus. Göttingen: V&R unipress, 2014. 279 S., 26 Abb. = Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe, 1. ISBN: 978-3-8471-0299-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Binder_Wespe_Alltagsbeobachtung_als_Subversion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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