Sarah Davies, James Harris (Hrsg.) Stalin. A New History. Cambridge University Press Cambridge 2005. XIII, 295 S., Tab.

Der zu besprechende Band geht auf eine Tagung der „Study Group on the Russian Revolution“ aus Anlass von Stalins 50. Todestag zurück. Die Herausgeber haben die Beiträge chronologisch angeordnet. Das Themenspektrum beginnt bei den revolutionären Anfängen Stalins im georgischen Milieu (A. Rieber) und dem Anfang seiner Regierungstätigkeit als Volkskommissar für Nationalitätenpolitik (J. Smith) und greift weiter aus zu den institutionellen Aufstiegsbedingungen des Generalsekretärs zur politischen Macht (J. Harris). Dann wird seine Rolle als Diktator (O. Chlevnjuk) und als Wirtschaftspolitiker der ersten Fünfjahrpläne (R. W. Davies) sowie als Außenpolitiker (A. Rieber) untersucht. Dem schließen sich Artikel an, die Aspekte seiner Handlungsmotive – als „Marxist“ (E. van Ree) oder als „revolutionärer Romantiker“ (D. Priest­land) – sowie seines Wirkens im Bereich der Filmpolitik (S. Davies) und bei der Inszenierung der Schauprozesse (W. Chase), seiner Interventionen in wissenschaftliche Kontroversen (E. Polock) und schließlich die Kon­struk­tions- und Funktionsweisen des Führerkults anhand der offiziellen Stalin-Biographie (D. Bran­denburger) analysieren.

Es wird deutlich, dass es nicht nur um Stalin, sondern um die politische Geschichte des Stalinismus geht, über deren Konzept seit kurzem eine spannende Diskussion geführt wird. Leider wird dieser Impuls von den Herausgebern in keiner Weise aufgenommen. Stattdessen wird zum x-ten Male das historische Drama des Streits zwischen „Totalitarismus“- und „Revisio­nsimus“-Konzepten erzählt. Der Beitrag A. Riebers („Stalin as Georgian: the formative years“) kann den Titel des Bandes „Stalin. A New History“ gut rechtfertigen. Der Autor bietet eine Zusammenfassung und Konkretisierung seines vor wenigen Jahren veröffentlichten bahn­brechenden Aufsatzes „Stalin: Man of the Borderlands“ (The American Historical Review 106 [2001]). Der damalige Beitrag, hauptsächlich auf die kritische Auswertung zeitgenössischer Erinnerungen und Do­kumenten-Publi­ka­ti­o­nen gestützt, kam noch fast ohne Referenz auf Archiv-Dokumente aus. Seine historische Bedeu­tung verdankt er der kulturwissenschaftlich wohl informierten Perspektive, die er auf das frü­he Leben Stalins in der südkaukasischen Region eröffnete. Dabei nahm er die sozialisierende Wirkungsmacht der Grenze zwischen kulturel­len Feldern (Georgien, Russland, Westeuropa) in den Blick. Stalins Agieren und Rezipieren auf verschiedenen Seiten der Grenze dieser Kulturen verhalf ihm dazu, multiple Identitäten je nach Opportunität anzunehmen und sich der Mas­ken dieser Kulturen im jeweiligen politischen Milieu zu bedienen. Auch der neuere Beitrag folgt dieser Linie, auch er unter Verwertung nur weniger neu erschlossener Dokumente.

Zuweilen erscheint in diesem Buch das „fundamentally new assessment of the Soviet leader“ etwas weit hergeholt: J. Harris („Stalin as General Secretary“) z.B. hat in mühevoller Kleinarbeit herausgearbeitet, dass in den zwanziger Jahren Stalins Wirken als Herr des Sekretariats des ZK nicht dazu diente, sich über die Kaderpolitik dieses Parteiorgans seine eigene Gefolgschaft zu organisieren. Wohl aber konnte er sich in dieser strategischen Position über Bedürfnisse und Wünsche der Parteisekretäre informieren, um diese für sich und gegen die linke Opposition zu gewinnen. Auch wer in diesem Machtkampf die Rolle von Ideen mehr als bisher betont sehen möchte, wird kaum jenes idyllische Bild eines freien Diskurses zwischen Stalin und der Opposition unterschreiben, das Harris ausmalt: The succession struggle as a see-saw battle of thesis and counter-thesis, of alternative visions of future of the revolution, presented to the Party elite and the broader membership(S. 77). Dabei – so die Behauptung – habe das Sekretariat gegenüber den Sekretären keine eigene politische Linie durchgesetzt. (S.73) Dies als Quintessenz der empirischen Forschung in den Archiv-Dokumenten darzu­stel­len, schießt weit über deren wirklichen Befund hinaus, der gerade so weit reicht, die Schwä­chen und Unzulänglichkeiten der damaligen Kaderpolitik des Parteiapparates zu zeigen. Diese eignete sich aber gleichwohl noch dazu, die Opposition niederzuhalten. Bei diesem Thema fällt im übrigen auf, dass sämtliche einschlägigen russischen Archiv-Forschungen (T. P. Koržichina, Ju. Ju. Figatner, E. G. Gimpel’son, I. V. Pavlova), die der These des Autors entgegenstehen, schlicht übergangen werden.

Der Beitrag E. van Rees („Stalin as Marxist“) bietet eine Zusammenfassung seiner vielfach gelobten, 2002 im Druck erschienenen Monographie „The Political Thought of Joseph Stalin“, die einer der seltenen und kompetenten Beiträge zur ideengeschichtlichen Untersuchung von Stalins Politik ist. Es bleibt jedoch der folgende Einwand: Stalins politisches Denken ohne eine Rekontextualisierung mit seinem politischen Handeln ergründen zu wollen, verliert die Praxis aus den Augen, die die Prämisse jeder Beziehung der Leninisten – und vor allem Stalins – zu Theorien und Ideen ist. So ist es höchst fraglich, ob der Lektürestoff aus der Bibliothek des Generalsekretärs zu dem Schluss führen darf, dass Stalins politisches Denken in der west­lichen Revolutionstradition, gar in der west­europäischen Aufklärung gewurzelt habe.

In J. A. Gettys Beitrag („Stalin as Prime Minister: power and the Politburo“) zielt die Hauptthese darauf ab, dass das Politbüro in der Hochzeit des Stalinismus der dreißiger Jahre als formale Institution aufgehört habe zu existieren. Es habe nur noch in Gestalt der Praktiken seiner Mitglieder gewirkt, die unter seinem Namen und mit seiner Autorität auftreten konnten und damit ihre Nähe zu Stalin belegten. Das sind überlegenswerte Erkenntnisse, die unsere – allerdings längst relativierten – Vorstellungen über das Funktionieren der formalen Institution des Politbüros in Frage stellen. Zugleich aber übertreibt der Autor, wenn er das Politbüro als „Team“ behandelt, zwar dominiert von Stalin, im Übrigen aber aus mächtigen und unabhängigen Politikern bestehend. Diese waren entgegen seiner Darstellung in eine Gruppendynamik eingebunden, die ein striktes Unterwerfungsverhältnis zu Stalin voraussetzte, von dem auch ihre Macht abgeleitet war. Über der „Loyalität“, durch die dieses „Politbüro“ auch in Abwesenheit Stalins funktionierte, wird die Gewalt vergessen, nämlich Furcht und Schrecken, die gewährleisteten, dass die Politbüro-Mitglieder im Sinne Stalins wirkten. Dieser Sachverhalt ist aus Dokumenten des ehemaligen Parteiarchivs kaum „herauszulesen“, wohl aber in der Sekundärliteratur längst gesicherter Forschungsstand.

D. Brandenberger hat in seinem Aufsatz („Stalin as symbol: a case study of the personality cult and its construction“) schon früher publizierte Studien zum Konstruktionsprozess der sowjetischen Stalin-Biographie (Voprosy istorii 12 [1997]) erweitert. Warum jedoch die Stalin-Biographie gleich als exemplarischer Fall stehen soll, der alles über den ganzen Kult aussagt, ist nicht plausibel. Der Autor beruft sich auf Stalin: Da die Propaganda des Marxismus-Leninismus zu abstrakt für die Massen sei, müssten seine Lehren eben durch Führer-Biographien popularisiert werden. Eine ähnliche Deutung hat Brandenberger schon in seinem 2002 publizierten Werk über die sowjetische Geschichtspolitik („National Bolshevism“) geliefert. Durch Verallgemeinerung wird daraus eine Interpretation des gesamten Stalin-Kults als schlichte Didaktik. Das erklärt kaum die umfassende Wirkungsweise dieses Kults im Kommunikationssystem der sowjetischen politischen Kultur. Die Stalin-Biographie jedenfalls war nicht der Kult, sondern nur eines der diversen Medien zu seiner Kanonbildung.

Der Beitrag der Mitherausgeberin S. Davies („Stalin as patron of cinema: creating Soviet mass culture 1932–1936“) konzentriert sich auf den Fundus von Protokollen des Chefs der sowjetischen Filmproduktion B. Šumjackij, die dieser im angegebenen Zeitraum von seinen Zusammenkünften mit Stalin abfasste. Das Untersuchungsfeld ist hier thematisch und chronologisch begrenzt, was in diesem Falle auch die dichte Darstellungsweise nach den Quellen rechtfertigen mag. Bei Davies ist darüber hinaus hervorzuheben, dass sie – entgegen der weitverbreiteten Unsitte der Historiographie seit Öffnung der sowjetischen Archive – ihre Dokumente in den Anmerkungen auch datiert. Das ist eine minimale Selbstverständlichkeit für die historische Qualifizierung von Dokumenten, die leider von den Mitautoren des Bandes nicht eingehalten wurde.

Insgesamt zeigt sich in einer Reihe von Beiträgen die Suggestivkraft, die von den Dokumen­ten der  früheren Sowjetarchive ausgeht und die zur Illusion beiträgt, aus ihnen eine „neue Ge­schichte“ rekonstruieren zu können. Ein Fehler, den allerdings die hier nicht näher besproche­nen, aber höchst lesenswerten Beiträge von R.W. Davies, D. Pristland, O. Chlevnjuk u. a. m. vermeiden. Der Band ist in vieler Hinsicht lehr­reich und gibt einen tiefen Einblick in den Stand, aber auch die Defizite der politischen Ge­schichtsschreibung über die Stalinsche Periode.

Benno Ennker, Radolfzell

Zitierweise: Benno Ennker über: Sarah Davies, James Harris (Hrsg.) Stalin. A New History. Cambridge University Press Cambridge 2005. XIII, 295 S. ISBN: 978-0-521-61653-9, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Benno-Ennker-Davies-Harris-Stalin_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)