Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Giles Bennett

 

Jacek Andrzej Młynarczyk Judenmord in Zent­ral­polen. Der Distrikt Radom im Generalgouver­nement 1939–1945. Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Wissenschaftliche Buch­gesellschaft Darmstadt 2007. 408 S. = Ver­öffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigs­burg der Universität Stuttgart, 9. ISBN: 978-3-534-20266-9.

Jacek Młynarczyk hat mit seiner Arbeit eine bedeutende Lücke geschlossen: Zwar hat Robert Sei­del unter dem Titel „Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945“ 2006 eine neben der Judenverfolgung mehr auf die deutsche Besatzungsverwaltung unter Einschluss der Rekrutierung polnischer Zwangsarbeiter ausgerichtete Arbeit zur selben Region veröffentlicht; eine dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Darstellung der Ermordung der Juden im Distrikt Radom durch das nationalsozialistische Deutschland, die durch­gehend die drei Perspektiven der Täter, der Opfer und der ethnisch-polnischen „Zuschauer“ (Raul Hilberg) berücksichtigt, fehlte jedoch bisher.

Nachdem Młynarczyk die bestehende Forschung charakterisiert und seine Vorgehensweise und Fragestellungen darlegt hat, widmet er sich zuerst der Charakterisierung der jüdischen Bevölkerung in der Region Kielce, denn diese Verwaltungseinheit war etwa deckungsgleich mit dem späteren Distrikt Radom während des Zweiten Weltkriegs. Dabei werden die Gliederung der jüdischen Bevölkerung nach Stadt und Land sowie nach Berufszweigen und politischen Gruppen, die schwierigen Lebensbedingungen und schließlich das im Vorfeld des Krieges verschärfte jüdisch-polnische Verhältnis differenziert in den Blick genommen.

Im ersten großen Abschnitt zur Gestaltung der „Judenpolitik“ der nationalsozialistischen Be­satzer bis Ende 1941 geht Młynarczyk erst auf die Entgrenzungen im Vorgehen der Militärverwaltung ein, um dann die für Judenpolitik zuständigen Organe der Zivilverwaltung und ihr leitendes Personal detailliert vorzustellen. Im Distrikt Radom kam es auch zu den ersten Ghettobildungen im besetzten Polen, so in Petrikau im Oktober und in Radomsko im Dezember 1939. Ein besonderer Ghettoisierungsschub fand während der Belegung mit Truppen im Vorfeld des ‚Unternehmens Barbarossa‘ im Frühjahr 1941 statt; trotzdem gab es ‚ghettofreie‘ Kreise bis kurz vor den Deportationen in die Vernichtungslager. Ende 1941 kam es zu einer zunehmenden Verschärfung des ‚Schießbefehls‘ gegen „illegal“ außerhalb von jüdischen Wohnbezirken angetroffene Juden – ein Vorgang, bei dem irrationale gesundheitspolitische Ängste der Besatzer eine Rolle spielten, die tragischerweise durch hilfesuchende Berichte der Judenräte über Krankheitsfälle in den Ghettos angefacht worden waren.

Nach der Umsetzung der antijüdischen Maßnahmen, die eine steigende Isolierung der jüdischen Bevölkerung in Ghettos, eine zunehmende wirtschaftliche Ausbeutung der Juden und willkürliche Verfolgungsmaßnahmen im Alltag umfassten, werden die Haltungen und Reaktionen der verschiedenen jüdischen Institutionen (darunter der von den Besatzern eingesetzten Judenräte, des jüdische Ordnungsdienstes, der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, aber auch des im Generalgouvernement in dieser Form einzigartigen „Ober-Ältestenrats der jüdischen Bevölkerung im Distrikt Radom“) sowie die Reaktionen der ‚einfachen‘ jüdischen Bevölkerung und der verschiedenen Segmente der jüdischen Gesellschaft beleuchtet. Durchgehend bedient sich Młynarczyk dabei in methodisch reflektierter Weise vieler polnischsprachiger Nachkriegserin­nerungen (vorzugsweise aus den reichen Beständen des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau) sowie Nachkriegsbefragungen durch die Justiz (meist aus der Abteilung des Bundes­ar­chivs in Ludwigsburg). Abschließend wird die Einstellung der christlichen bzw. ethnisch polnischen Mehrheitsbevölkerung zu den antisemitischen Maßnahmen der Besatzer aufgefächert.

Im nächsten Kapitel behandelt Młynar­czyk die Massenmorde der „Aktion Reinhard“ im Distrikt Radom. Dabei geht er erst auf die Entscheidungsfindung für das ganze Generalgouvernement und die Befehlswege in den Distrikten ein, die er besonders klar darstellt. Der Ablauf der Aktionen in den einzelnen Kreisen wird in grob chronologischer Reihenfolge dargestellt. Das Kapitel beschäftigt sich anschließend ebenfalls mit den jüdischen Reaktionen und den Überlebenschancen sowie den in der polnischen Bevölkerung vorzufindenden Haltungen.

In einem letzten Kapitel vor dem Fazit beschreibt der Autor, wieder aus den genannten drei Perspektiven, die jüdischen Zwangsarbeitslager, die im Distrikt Radom besonders lange bestanden und dem kümmerlichen arbeitsfähigen Rest der jüdischen Bevölkerung paradoxerweise vergleichsweise die besten Überlebensbedingungen boten; besonders treffend wird hier auf die ambivalente Rolle der Funktionshäftlinge eingegangen.

In vielen Fällen diskutiert Młynarczyk aus seiner Sicht fragliche Darstellungen in der Forschungsliteratur und korrigiert diese (besonders S. 51–52, 80, 251, 321, 332, 334). Im Unterschied zu anderen Studien dieses Typs gibt es kein eigenes Kapitel zur justiziellen Aufarbeitung, so dass die verwendeten Prozessunterlagen nicht im Speziellen eingeordnet werden. Angesichts des stimmigen und ohnehin umfangreichen thematischen Zuschnitts und der methodisch sauberen Verwendung der Aussagen fällt diese Auslassung aber nicht übermäßig ins Gewicht. Kleinere editorische Unsauberkeiten (z.B. S. 47, 59, 78, 80–81, 86, 171, 175, 254, 372) lassen sich wohl bei Publikationen dieser Art nicht vermeiden.

Die Arbeit weist an etlichen Stellen über den Distrikt Radom hinaus und wird so als willkommene Ergänzung für jeden, der sich mit dem Verlauf der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ im besetzten Polen beschäftigt, eine nützliche und gut lesbare Ergänzung darstellen.

Giles Bennett, München

Zitierweise: Giles Bennett über: Jacek Andrzej Młynarczyk Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945. Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2007. = Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, 9. ISBN: 978-3-534-20266-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bennett_Mlynarczyk_Judenmord.html (Datum des Seitenbesuchs)

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