Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emig­ration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. VIII, 398 S., 5 Tab., 4 Abb. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 39

Gehört Russland zu Europa? Es gibt wohl kaum einen russischen Denker oder Literaten, der nicht versucht hätte, auf die eine oder andere Weise eine Antwort auf diese klassische Frage der russischen Ideengeschichte zu geben. Einen der einflussreichsten Versuche, diese Frage ein für allemal negativ zu beantworten, unternahm die im Jahre 1921 von russischen Emigranten gegründete eurasische Bewegung. Die Eurasier behaupteten entschlossen, dass Russland weder zu Europa noch zu Asien gehöre, sondern als „Eurasien“ einen einheitlichen und selbständigen „Kontinent“ zwischen Europa und Asien darstelle, der nach dem unvermeidlichen „Untergang“ Europas eine kulturelle und politische Führungsrolle in der Welt übernehmen werde. Ihre mit viel Leidenschaft propagierte Ideologie fand in der Zwischenkriegszeit vor allem unter russischen Emigranten zahlreiche Anhänger und Kritiker, verlor jedoch mit dem Zweiten Weltkrieg ihre aktuelle Bedeutung. Umso größere Verbreitung fanden eurasische Ideen nach 1991 im postsowjetischen Russland, und manche Beobachter gingen sogar davon aus, der Eurasismus könne zur Staatsideologie des neuen Russlands werden.

Stefan Wiederkehr unternimmt in seiner verdienstvollen Studie erstmalig auf breiter Quellengrundlage eine eingehende Untersuchung des Eurasismus in all seinen Erscheinungsformen, wobei ungefähr zwei Drittel seiner Arbeit dem klassischen und ein Drittel dem postsowjetischen Eurasismus gewidmet sind. In Wiederkehrs Interpretation erscheint der klassische Eurasismus in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Wiederkehr untersucht sorgfältig, wie die einzelnen Eurasier die Einheit und Selbständigkeit Eurasiens mit geographischen (P.N. Savitskij), historischen (G.V. Vernadskij), ethnographischen (N.S. Trubetskoj) und linguistischen Argumenten (R.O. Jakobson) systematisch zu konstruieren versuchten. Zu Recht verweist er dabei auf die zentrale Bedeutung, die vor allem bei L.P. Karsavin und N.S. Trubetskoj dem Konzept der ličnost’ (Person) zukam. Einerseits sollte so die eurasische Ideologie als „Personologie“, als ein komplexes, synthetisches System unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen etabliert werden. Andererseits propagierten die Eurasier in politischer Absicht Eurasien als eine einzigartige „Kulturpersönlichkeit“, die als harmonische Einheit einer Vielheit kollektiver und individueller Persönlichkeiten dem materialistischen, egoistisch-individualistischen Europa überlegen sei. Knapp und präzise behandelt Wiederkehr die organisatorische Geschichte der Bewegung, gibt Kurzbiographien der wichtigsten Eurasier und geht überdies auf die Rezeptionsgeschichte der Bewegung in der Zwischenkriegszeit ein.

Mehr noch als der klassische Eurasismus, der, wie Wiederkehr zu Recht betont, keineswegs eine homogene Begegnung war, zerfällt der postsowjetische Eurasismus in zahlreiche miteinander konkurrierende Strömungen, die sich teilweise auch wesentlich vom klassischen Eurasismus unterscheiden. Dem biologischen und rassistischen Eurasismus des Historikers L.N. Gumilev steht der aggressiv antiamerikanische, esoterisch-okkulte, geopolitische Neoeurasismus A.G. Dugins gegenüber, dessen „Eurasien“, im scharfen Gegensatz zu dem der Zwischenkriegszeit, nunmehr sogar Europa mit einschließt! Wiederkehrs chronologische Darstellung ist hier sehr überzeugend, wird doch so beispielsweise deutlich, wie Dugin seine radikal antidemokratischen, ursprünglich der westeuropäischen Nouvelle Droite entstammenden Ideen erst mit dem Zerfall und der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 mit „eurasischen“ Ideen anreicherte. Besonders zu danken ist Wiederkehr, dass er erstmalig auch moderatere Varianten des Eurasismus behandelt, insbesondere A.S. Panarins neokonservativen Versuch, die eurasische Kulturtheorie zu einer „demokratisch fundierten, globalisierungskritischen Position weiterzuentwickeln“. (S. 274)

Neben den signifikanten Unterschieden zwischen klassischem und postsowjetischem Eurasismus betont Wiederkehr auch die grundlegende Gemeinsamkeit ihrer gesellschaftlichen Funktion: In einer krisenhaften, von imperialem Zerfall geprägten Periode sozialer Unsicherheit bot der Eurasismus mit wissenschaftlichem An­spruch auf Welterklärung und Zukunftsvorhersage Orientierung, und er gab konkrete Handlungsanleitungen zur imperialen Wiederherstellung. Im Zentrum des Eurasismus steht somit für Wiederkehr eine eurasische Geschichts­kon­zep­tion, die er als „historizistisch“ im Sinne Karl Poppers identifiziert, war doch für Eurasier jeglicher Couleur „mit der Analyse der Vergangenheit und der vermeintlichen Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Ablaufs der Weltgeschich­te immer auch ein Handlungsaufruf verbunden [...]. Es gilt nach dieser Auffassung, die Erreichung des unausweichlichen Ziels der Geschichte zu beschleunigen.“ (S. 298) Dies ist eine wichtige und aufschlussreiche Interpretation des Eurasismus, erlaubt sie es doch, die erstaunliche Popularität der eurasischen Ideologie sowohl unter russischen Emigranten als auch im postsowjetischen Russland einleuchtend zu erklären.

Für die klassischen Eurasier ging es darüber hinaus jedoch noch um weit mehr: um eine Resakralisierung Russlands und der Welt. Deshalb ist es etwas schade, dass Wiederkehr die Funktion des Religiösen im klassischen Eurasismus nicht eingehender untersucht hat. Besonders deutlich wird dies bei P.N. Savitskij. Sein Konzept des mestorazvitie (Entwicklungsraum), das Wiederkehr letztlich an die Kategorie des Raumes gebunden sieht (S. 74), ist ohne eine metaphysische Komponente aber nicht abschließend zu verstehen. Hier geht es nicht um Geopolitik im herkömmlichen Sinne eines geographischen Determinismus, sondern um eine naturphilosophische Suche nach Gott, die gegenseitige Entsprechung (und Beeinflussung) von Mensch und Umwelt, Geographie und Politik. Das Aufdecken von Übereinstimmungen und Parallelen hat hier einen grundsätzlich religiösen Sinn, Gesetzmäßigkeiten in Natur und Geschichte sind für Savitskij Hinweise auf die Existenz eines Schöpfergottes und sein Wirken in der Materie. In anderen Worten, es geht weniger darum, wie Wiederkehr behauptet, „die verborgene Ordnung der Welt – und damit die Existenz Eurasiens – zu enthüllen“ (S. 108), sondern gerade umgekehrt, die „geordnete“ Existenz Eurasiens ist ein Hinweis auf die verborgene Existenz Gottes und seine Enthüllung! In diesem Sinne ist für Savitskij Wissenschaft weit mehr als empirische Erkenntnis oder Politik; sie ist praktizierte Gnostik. Daher ist es etwas problematisch, die sicherlich auch politisch zu verstehenden Äußerungen der Eurasier ausschließlich politisch zu interpretieren, auch wenn die Eurasier selbst wohl bewusst mit dieser Zweideutigkeit spielten. Der eurasische Totalitätsanspruch in der Zwischenkriegszeit wäre so letztendlich ein reli­gi­öser, die „Eurasische Partei“ trüge eher die Züge einer Kirche als die einer politischen Partei.

Ungeachtet dieses Einwandes ist das Erscheinen von Wiederkehrs beeindruckender Stu­die sehr zu begrüßen. Sie wird dank ihrer soliden und zuverlässigen Darstellung sowie einer her­vorragenden Bibliographie zweifellos für lange Zeit das Standardwerk in deutscher Sprache zum Eurasismus in allen seinen Ausprägungen und Schattierungen bleiben.

Martin Beißwenger, Notre Dame

Zitierweise: Martin Beisswenger über: Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007 = Beiträge zur Geschichte Osteuropas. ISBN: 978-3-412-33905-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beisswenger_Wiederkehr_Eurasische_Bewegung.html (Datum des Seitenbesuchs)