Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 148-150

Verfasst von: Jan Behrends

 

Mark Levene: The Crisis of Genocide. Vol. 1: Devastation. The European Rimlands 1912–1938. Oxford: Oxford University Press, 2013. XXVIII, 545 S., 5 Ktn. ISBN: 978-0-19-968303-1.

Mark Levene: The Crises of Genocide. Vol. 2: Annihilation. The European Rimlands 1939–1953. Oxford: Oxford University Press, 2013. XVIII, 535 S., 5 Ktn. ISBN: 978-0-19-968304-8.

Die vorliegenden zwei Bände über Genozide in Europa während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben das Potential, sich auf absehbare Zeit als Standardwerk der historisch brisanten wie auch hochaktuellen Thematik Völkermord und Massengewalt zu etablieren. In seiner großangelegten Studie nimmt Mark Levene die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Tod Stalins in den Blick, die er als genozidale Epoche in der modernen Geschichte Europas definiert. Sein Ansatz ist dabei – ähnlich wie in Timothy Snyders Bloodlands – geographisch. Der Verfasser verortet die Massengewalt in dem Raum, der vor 1914 durch europäische Imperien – Habsburg, Russland und das Osmanische Reich – geprägt war. Levene nennt diese Region, die vom Baltikum durch Mitteleuropa bis zum Balkan reicht und auch das Schwarze Meer, den Kaukasus und Kleinasien einschließt, die rimlands. Ethnische und religiöse Heterogenität charakterisierten diesen Raum und die Imperien, die ihn bis zum Ersten Weltkrieg beherrschten. Bereits vor 1914 gewannen hier die nationale Idee sowie Vorstellungen von ethnisch-nationaler Neuordnung und Homogenisierung an politischer Wirkungsmacht. Eine moderne Ordnung dieses Raumes sollte einheitlich und eindeutig sein und sämtliche modernen Mittel waren legitim, um dieses Ziel zu erreichen. Dazu zählte, nicht nur im Kriege, die Massengewalt gegen die zivile Bevölkerung.

Die beiden Bände folgen einer chronologischen Ordnung: das erste Buch umfasst die Zeit von 1912 bis zum Ende der Pariser Ordnung, der zweite Band die Jahre 1939 bis zum Tod Stalins 1953. Die Darstellung setzt mit den Balkankriegen ein und widmet sich in einer lesenswerten Betrachtung detailliert dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich. Aus dem Zusammenbruch der Imperien entwickelt Levene seine These einer Krise der rimlands nach dem Ende der Imperien. Sie habe sich in der Vorstellung ausgedrückt, dass eine nationalstaatliche Ordnung in diesem Teil Europas möglich sei. Dabei veranschaulicht der Verfasser die Komplexität und Fragilität des Minderheitenschutzes, der entwickelt wurde, um die Krise zu meistern. Der zweite Teil des ersten Bandes bespricht dann jedoch den Aufstieg der Mächte, die dieses völkerrechtliche System aus dem Angeln heben wollten und bereit waren, eine gewaltsame Neuordnung der Region durchzusetzen: Stalins Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland.

Das zweite Buch beschäftigt sich mit den Genoziden, die während des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den rimlands verübt wurden. Die Darstellung beginnt bei der Zerstörung des polnischen Staates und der Gewalt der deutschen und sowjetischen Okkupanten gegen seine Bürgerinnen und Bürger. Sie reicht bis zu der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und den ethnischen Verfolgungen in Stalins Sowjetunion. Den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und den Holocaust behandelt der Autor als Teil einer zweiten Krise in den rimlands. Wiederum gelingt es dem Verfasser, ein breites Panorama verschiedener Fälle zu präsentieren. So beschäftigt er sich etwa eingehend mit dem Partisanenkrieg in Jugoslawien und der Sowjetunion oder mit den genozidalen Kämpfen zwischen Polen und Ukrainern während des Zweiten Weltkrieges. Neben die epochalen Auseinandersetzungen tritt so der Blick auf die oft vernachlässigten Konflikte, die im Schatten des Krieges neue Realitäten schufen. Der abschließende Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit der Deportation von Menschen, deren Nationen von Stalin der Kollaboration mit den Besatzern verdächtigt wurden, ins Innere der Sowjetunion. Er schließt mit der antisemitischen Kampagne von 1952/53. Diese potentiell gefährliche Aktion endete mit Stalins Tod und mündete nach Meinung Levenes wohl auch deshalb nicht in einen weiteren Genozid.

Die vorliegende Arbeit stellt sicher ein bisher unübertroffenes Kompendium zur Geschichte genozidaler Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts dar. Gut lesbar und detailliert wird der Leser mit der Politik und dem Kontext politischer Massengewalt vertraut gemacht. Dabei wird das Publikum durch die Chronologie und die geographischen Schwerpunkte mit einer Deutung konfrontiert. Für Levene sind die Genozide des frühen 20. Jahrhunderts Teil der Modernisierung und der Nationsbildung in dieser Region. Bei aller Ähnlichkeit mit Timothy Snyders Bloodlands ist Levenes Interpretation aber sowohl zeitlich als auch räumlich breiter angelegt. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass er eine Vielzahl verschiedener Fälle von Völkermord in einem Werk zu dokumentieren vermag. Er bietet folglich jedoch keinen Platz mehr für die singuläre Betrachtung einzelner Opfergruppen. Sie werden in dieser Darstellung alle auf ihre Art und Weise Teil eines größeren politischen Prozesses.

Für die Geschichte der Gegenwart werfen diese beiden lesenswerten Bände die Frage auf, inwieweit die Prozesse des imperialen Zerfalls und der Nationsbildung durch kommunistische Herrschaft nur stillgestellt wurden und spätestens seit dem Ende der UdSSR wieder aufbrechen. Auch ließe sich argumentieren, dass rimlands der Moderne heute an anderen Orten existieren – etwa im Nahen Osten oder in Zentralasien. Die von Levene beschriebenen sozialen und politischen Prozesse prägten nicht nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern reichen bis in unsere unmittelbare Gegenwart mit ihren Konflikten, Kriegen und Genoziden.

Jan C. Behrends, Berlin und Potsdam

Zitierweise: Jan Behrends über: Mark Levene: The Crisis of Genocide. Vol. 1: Devastation. The European Rimlands 1912–1938. Oxford: Oxford University Press, 2013. XXVIII, 545 S., 5 Ktn. ISBN: 978-0-19-968303-1; Mark Levene: The Crises of Genocide. Vol. 2: Annihilation. The European Rimlands 1939–1953. Oxford: Oxford University Press, 2013. XVIII, 535 S., 5 Ktn. ISBN: 978-0-19-968304-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Behrends_SR_Crisis_of_Genocide_I-II.html (Datum des Seitenbesuchs)

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