Der Warschauer Aufstand 1944. Ereignis und Wahrnehmung in Polen und Deutschland. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam, und des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, herausgegeben von Hans-Jürgen Bömelburg / Eugeniusz Cezary Król / Michael Thomae. Paderborn [usw.]: Schoeningh, 2011. 295 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-3-506-72905-7.

Der Warschauer Aufstand von 1944 ist eines der großen Themen der polnischen Zeitgeschichte. Wenige andere Ereignisse genießen eine vergleichbare Aufmerksamkeit in der historischen Forschung, in der Publizistik und in der postkommunistischen Geschichtspolitik unseres Nachbarlandes. Deshalb ist es begrüßenswert, dass der vorliegende Band die überschaubare deutschsprachige Literatur um wichtige Studien ergänzt. Das Buch zeichnet sich durch die Beteiligung deutscher und polnischer Historiker und die Pluralität der Ansätze aus. Es enthält u.a. Studien zur Militärgeschichte, zum Alltag der Bevölkerung während des Aufstandes, biographische Skizzen und Beiträge zur Perzeption und Erinnerung an den Aufstand. Den einzelnen Aufsätzen gelingt es vortrefflich, zentrale Aspekte des Geschehens herauszugreifen, das Handeln der Akteure zu erklären und die langfristigen Wirkungen des Widerstandskampfes vom Sommer 1944 zu skizzieren. Dabei verlieren sich die Verfasser weder in der gloria victis, das die polnische Perzeption lange prägte, noch in einer eindimensionalen Sicht auf die beiden totalitären Mächte, die jeweils ihren Anteil am dramatischen Ausgang hatten. Im Gegenteil: Die Texte sind im Urteil ausgewogen und doch in der Sache genau, etwa wenn es gilt, von den deutschen Verbrechen an Warschau und seinen Bewohnern zu erzählen.

Zum Auftakt geben die Aufsätze von Grzegorz Mazur, Karl-Heinz Frieser und Eugeniusz Duraczyński lesenswerte Einblicke in die Lage des polnischen Untergrundstaates nach dem Zusammenbruch der Ostfront, die militärische Lage der Wehrmacht und die internationale Diplomatie. Besonders hervorzuheben ist der anschließende Beitrag von Janusz Marszalek über das Leben und Sterben der Warschauer Zivilbevölkerung. Der Verfasser beschreibt die Lage in den unterschiedlichen Vierteln der Stadt und erklärt, welche Konsequenzen der Aufstand hier jeweils hatte. Die Verwüstung und Zerstörung des urbanen Raumes wird hier ebenso greifbar wie das Leiden der hilflosen Bewohner. Innerhalb weniger Stunden verwandelte sich die Stadt in einen Gewaltraum und selbst die Behörden des Untergrundstaates hatten große Mühen, sich in den folgenden Wochen Autorität zu verschaffen. Der Verfasser benennt auch die Konflikten zwischen den Kämpfern der Heimatarmee und der lokalen Bevölkerung, die oftmals ein Ende des Leidens herbeisehnte. Dabei widmet sich der Verfasser auch dem Schicksal der im Untergrund lebenden jüdischen Warschauer. Der Aufsatz endet mit der Schilderung der Vertreibung der Überlenden und einer Bilanz der verheerenden Verluste.

Einen weiteren Höhepunkt der Bandes stellt Matthias Barelkowskis ausführliche biographische Studie über Erich von dem Bach-Zelewski dar, der die Niederschlagung des Aufstandes befehligte. Durch die Auswertung der Kriegstagebücher und der Personalakten Bachs gelingt es ihm, ein vielschichtiges Bild dieses NS-Täters zu zeichnen. Barelkowski stellt Bachs Warschauer Tätigkeit in einen breiteren biographischen Kontext. Er skizziert seine Karriere vom Ersten Weltkrieg, in dem Bach als Minderjähriger kämpfte, über die Weimarer Republik bis zu seinem Aufstieg in der SS an der Seite Heinrich Himmlers, seiner Ernennung zumChef-Bandenbekämpferund zumSonderbeauftragtenin Warschau und Budapest bis hin zur zwiespältigen Rolle in verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegsjahre. So entfaltet sich die Laufbahn eines Nationalsozialisten, der seine wesentlichen Prägungen weit vor seinem Einsatz in Warschau erfahren habe, dessen Motive dennoch oft im Dunkeln blieben. Einerseits skrupelloser Gewalttäter und Kriegsverbrecher, setzte sich von dem Bach-Zelewski gegen Kriegsende für eine flexiblere deutsche Ostpolitik ein und minderte wohl auch die schlimmsten Exzesse während der Niederschlagung des Aufstandes in Warschau. Sein Versuch, die Führung der Armia Krajowa zum gemeinsamen Kampf gegen die Sowjetunion zu gewinnen, scheiterte. Nachdem der SS-Führer in amerikanische Gefangenschaft geraten war, gelang es ihm, seinen eigenen Anteil an Kriegsverbrechen herunterzuspielen. Er trat selbst als Kronzeuge auf und konnte die Auslieferung nach Polen verhindern. Mit seiner biographischen Skizze schließt Barelkowski eine Forschungslücke und unterstreicht, wie viel wir aus der intensiven Beschäftigung mit einzelnen Akteuren über die Epoche insgesamt lernen können.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Thomas Vogel in seiner Untersuchung über den Hauptmann Wilm Hosenfeld, der wegen seines Einsatzes für die verfolgte polnische Bevölkerung bereits eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Aus Briefen, Tagebüchern und Vernehmungsprotokollen rekonstruiert Vogel die distanzierte Sicht eines Wehrmachtsoffiziers auf das Geschehen. Er zeigt, dass durchaus Handlungsspielräume existierten und dokumentiert die Humanität Hosenfelds, der sich wiederholt dafür einsetzte, Gegner und Gefangene zu schonen. Einen Blick auf die Erfahrung des Aufstandes erlaubt der Beitrag von Ewa Czerwiadowski und Angela Martin, die Auszüge aus Interviews mit Überlebenden des Aufstandes präsentieren. Der Band wird durch Beiträge über die Perzeption des Aufstandes in Polen (Eugeniusz Cezary Król), die Denkmäler in Polen und Deutschland (Tomasz Markiewicz) und die geteilte Erinnerung in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten (Matthias Barelkowski und Christoph Kleßmann) abgerundet. Insgesamt besticht der Band durch lesenswerte Studien auf hohem Niveau und die gelungene Zusammenarbeit zwischen der polnischen und deutschen Forschung. Erst in der Zusammenschau deutscher und polnischer Quellen erschließt sich die Komplexität dieses Schlüsselereignisses europäischer Geschichte, das weit über seine militärische Bedeutung hinausweist. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Zusammenarbeit mit den polnischen Kolleginnen und Kollegen zukünftig noch ausbauen lässt und dass die Ergebnisse des Bandes in Osteuropaforschung und Zeitgeschichte breit rezipiert werden.

Jan C. Behrends, Potsdam