Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 513-514

Verfasst von: Mathias Beer

 

Hugo Service: Germans to Poles. Communism, Nationalism and Ethnic Cleansing after the Second World War. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2013. IX, 378 S., 7 Ktn. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-67148-5.

„Flucht und Vertreibung“ hat sich im Deutschen zu einer Chiffre für die Flucht, Ausweisung und Umsiedlung von rund 12,5 Millionen Bürgern aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und von Angehörigen deutscher Minderheiten aus Ostmitteleuropa während und am Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Das Wort umfasst ein breites Spektrum an Bedeutungsfeldern, welche die Ursachen, den Verlauf und die Folgen dieses größten Zwangsmigrationsprozesses in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nur unzureichend umschreiben.

Bis zum Ende des Kalten Krieges stand in der eher überschaubaren Forschung zum Thema ebenso wie in der polarisierten politischen Deutung und Auseinandersetzung vorwiegend der Verlauf dieser Zwangsmigration im Vordergrund. Das hat sich seit dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts grundlegend geändert. Alle Bedeutungsfelder der Chiffre „Flucht und Vertreibung“ wurden zu Themen vorwiegend der historischen Forschung. Dazu haben neben deutschen Studien insbesondere solche von Wissenschaftlern aus den ostmitteleuropäischen Ländern, und hier wiederum aus Polen, sowie aus dem angelsächsischen Raum beigetragen.

In diesem forschungsgeschichtlichen Rahmen ist die wichtige Studie von Hugo Service zu verorten. Auch wenn sie das ganze Spektrum von „Flucht und Vertreibung“ im Blick hat, bilden die Folgen der Zwangsmigration in bestimmten Gebieten den Schwerpunkt der Arbeit – die Folgen für die Menschen, die Folgen für die Region, die Beweggründe sowie Ziele der Akteure des ethnisch und politisch motivierten Programms der Neugestaltung der Gesellschaft sowie das Instrumentarium, dessen sie sich dabei bedienten, und der Stellenwert einzelner Faktoren im Rahmen des damit einhergehenden, radikalen kommunistisch geprägten gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesses. Die Analyse der ethno-nationalen Wandlungsprozesse im Zusammenhang mit Zwangsmigrationen ist in einen breiten zeitlichen und geographischen Kontext eingebettet, der überzeugend mit dem eigentlichen Anliegen des Buches verbunden ist, wodurch dessen Ergebnisse über den regionalen Schwerpunkt hinaus reichen. In diesem Rahmen fokussiert die Arbeit auf ein Fenster vom letzten Kriegsjahr bis zum Ende der 1940er Jahre und auf einen Vergleich der Entwicklung von zwei vom Krieg unterschiedlich betroffenen und in ihrer ethnischen Struktur sich unterscheidenden Regionen, die als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Polen zugesprochen wurden: Auf den weniger in Mitleidenschaft gezogenen, einheitlich von deutschsprachiger Bevölkerung bewohnten niederschlesischen Bezirk Hirschberg (Jelenia Góra), aus dem die Bevölkerung bei Kriegsende nicht geflohen ist, sowie auf den von deutscher und polnischer Zweisprachigkeit gekennzeichneten, im westlichen Oberschlesien gelegenen Bezirk Oppeln (Opole). Wenn auch die deutsche Bevölkerung schon allein aufgrund ihrer Zahl im Mittelpunkt steht, bezieht die Studie alle ethnischen Gruppen in die Analyse mit ein.

Die in zehn Kapitel gegliederte Studie stellt zunächst in drei Kapiteln die Grundzüge der nationalsozialistischen Besatzungs-, Ausweisungs- und Vernichtungspolitik mit Blick auf Polen dar – eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Polen und den ihm auf der Potsdamer Konferenz von den Alliierten zugesprochen östlichen Gebieten des Deutschen Reiches –, beleuchtet die territorialen Veränderungen sowie den Aufstieg des Kommunismus in Polen bis 1949 und charakterisiert die unübersichtlichen Verhältnisse in der Übergangszeit vom Krieg zum Frieden. Auf dieser Grundlage gehen die folgenden sieben Kapitel auf einzelne Aspekte der Fragestellung der Studie ein: Den spezifischen regionalen Ablauf der Ausweisungen, der von Kompetenzwirrwarr, gegensätzlichen Interessen und Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung gekennzeichnet war; die mit großen Schwierigkeiten verbundene, chaotisch verlaufende Wiederbesiedlung der „wiedergewonnen Gebiete“, in der erschwerend auch die sprachliche und kulturelle Heterogenität der Siedler und deren unterschiedliche Motivation zum Tragen kam; die komplizierte, letztendlich gescheiterte ethnische Überprüfung der Bevölkerung; das zeitweilige Zusammenleben der auszuweisenden deutschen Bevölkerung und der neu Angesiedelten; die Situation der jüdischen Holocaust-Überlebenden, welche im Vergleich zu den anderen ethnischen Minderheiten zunächst besser gestellt waren; die von den regionalen und staatlichen Behörden eingeleiteten Assimilationsmaßnahmen und schließlich die Maßnahmen, um auch alle deutschen kulturellen Spuren verschwinden zu lassen. Abschließend hebt der Autor den Blick, ordnet die untersuchten regionalen Beispiele in die gesamtpolnische Entwicklung ein und vergleicht sie mit unterschiedlichem Tiefgang mit den Ausweisungen aus den anderen ostmitteleuropäischen Staaten.

Auf der Grundlage der klug ausgewählten Vergleichsbeispiele, durch die sich das Buch von der nicht geringen Zahl von Studien mit gleicher thematischer und geographischer Ausrichtung abhebt, und auf breiter Quellenbasis, die intensiv und abwägend befragt wird, gelingt es der Studie nuanciert und überzeugend, den Forschungsstand zu „Flucht und Vertreibung“ zu erweitern. Den grundlegenden ethno-nationalen und gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen, die auf sämtliche Bevölkerungsgruppen, einschließlich der jüdischen, in den untersuchten Regionen zielten, lagen im wesentlich fünf Faktoren zu Grunde. Erstens, das zentrale Ziel, unter kommunistischem Vorzeichen einen ethnisch möglichst homogenen polnischen Nationalstaat herzustellen, das alles andere, auch die Rache für die NS-Verbrechen, in den Schatten stellte. Ein wesentliches Mittel, dieses Ziel zu erreichen, waren zweitens „spontane“ und gezielt eingeleitete, von Lageraufenthalten, Zwang, Misshandlungen und Tod begleitete Migrationen großen Umfangs, die nicht nur eine Richtung kannten, eng miteinander verbunden waren, sich gegenseitig bedingten und chaotische Züge trugen. Gerade in den bisher mehrheitlich deutschsprachigen Regionen der neuen polnischen Gebiete kam der massiven Ansiedlung von Neusiedlern eine zentrale Rolle zu, half sie doch, die Vertreibung der deutschen Bevölkerung in Gang zu setzen, Überzeugungsarbeit für die Notwendigkeit der Ausweisung zu leisten, die Geschwindigkeit des Aussiedlungsprozesses aufrecht zu erhalten und für dessen angestrebte Nachhaltigkeit zu sorgen. Drittens kamen im Rahmen der ethno-nationalen Umgestaltung der ethnischen Überprüfung und der Zwangsassimilation, die, wie in allen anderen Kapiteln, die Studie quantitativ und qualitativ veranschaulicht, besondere Bedeutung zu. Sie verliefen in den beiden untersuchten Regionen unterschiedlich. Viertens waren die maßgeblich gegen die deutschsprachige Bevölkerung gerichteten ethnischen Säuberungen von einer gezielten „kulturellen Säuberung“ begleitet, für die die Studie viele Beispiele liefert. Ihr Ziel war es, sämtliche deutschen Spuren in den sogenannten „wiedergewonnen Gebieten“ zu tilgen. Und schließlich zielte das social engeneering fünftens auf den Aufbau einer neuen, kommunistischen Gesellschaft, wo das durch die Ausweisung der deutschen Bevölkerung bereitstehende Vermögen ein wichtiges Pfund in den Händen der neuen Machthaber war. Ethnische Säuberung und die revolutionären sozio-ökonomischen Umwälzungen gingen Hand in Hand.

Germans to Poles ist einerseits eine eng an die Quellen gebundene, klug argumentierende Analyse und andererseits eine souveräne Einordnung in den Gesamtkontext. Differenziert, ohne dass der Blick im Lokalen und Regionalen verhaftet bliebe, ist es eine Mikrostudie im besten Sinne des Begriffs, die allgemeine gesellschaftliche Mechanismen und Entwicklungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit sichtbar macht, die wesentlich mit Zwangsmigrationen und ihren Folgen verbunden waren. Es ist, nicht unwichtig, eine gut geschriebene und auch deshalb überzeugende Studie, die die Forschung zu „Flucht und Vertreibung“ bereichert.

Mathias Beer, Tübingen

Zitierweise: Mathias Beer über: Hugo Service: Germans to Poles. Communism, Nationalism and Ethnic Cleansing after the Second World War. Cambridge / New York: Cambridge University Press, 2013. IX, 378 S., 7 Ktn. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-67148-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beer_Service_Germans_to_Poles.html (Datum des Seitenbesuchs)

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