Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Winfried Baumgart

 

Robert Legvold (ed.) Russian Foreign Policy in the Twenty-First Century and the Shadow of the Past. Columbia University Press New York 2007. X, 534 S. = Studies of the Harriman Institute Columbia University. ISBN: 978-0-231-14122-2.

Das Buch besteht aus acht zumeist umfangreichen Beiträgen über Grundlagen und Voraussetzungen der heutigen russischen Außenpolitik unter Vladimir Putin. Der Herausgeber, R. Legvold, steuert neben seinem eigenen Beitrag auch eine Einleitung bei. Er und vier weitere Beitragende (R. G. Suny, L. T. Caldwell, A. Stent, C. A. Wallander) sind Politologen, zwei sind Historiker (D. McDonald, A. J. Rieber), einer ist Soziologe (G. Rozman) an amerikanischen Hochschulen. Das Abstraktionsniveau der Beiträge ist recht hoch; die russische Geschichte dient allen zur Unterfütterung ihrer jeweiligen Hauptthese und ihrer jeweils unterschiedlichen Herangehensweise. Oft reichen die historischen Rückgriffe bis zu Ivan IV. oder Peter dem Großen, Rückblenden ins 19. Jahrhundert spielen eine große Rolle, das Hauptgewicht liegt aber auf der sowjetischen Geschichte nach 1917/18 und der postsowjetischen Zeit nach 1991. Endpunkt aller Betrachtungen ist das Jahr 2006. Für Historiker (und für historisch vorgehende Politologen) ist es immer heikel, so weit in die eigene Zeitgeschichte vorzustoßen, denn viele Schlussfolgerungen, die sich auf das Tagesgeschehen beziehen, und besonders die Prognosen, die man aus den ausgebreiteten Reflexionen zieht, können schnell veralten und sich als falsch erweisen. So bleiben der georgisch-russische Krieg von 2008 und die jüngsten Einbrüche im internationalen Bankwesen und in der Weltwirtschaft, die Russland besonders hart getroffen und Putins Modernisierungsprogramm weit zurückgeworfen haben, naturgemäß unberücksichtigt.

Jeder der Beitragenden stellt seine Ausführungen unter ein großes Thema, das zuvor sicherlich abgesprochen worden ist, damit man sich nicht gegenseitig ins Gehege kommt. Manche der aufgestellten Thesen sind von vornherein plausibel wie diejenige McDo­nalds, der in einem Bogen von 300 Jahren die unterschiedlich intensive Interdependenz zwischen russischer Innen- und Außenpolitik Revue passieren lässt. Manche sind aber hochgestochen und versuchen, viel zu viel in eine These hineinzupacken, so dass sie am Ende den Leser nicht wesentlich klüger machen; so subsumiert Wallander die russische Außenpolitik mit Rückgriffen bis ins Spätmittelalter unter dem Begriff „Globalisierung“, der – je weiter die Autorin in die Geschichte zurückgeht – gekünstelt erscheint und wenig erhellt. Am provozierendsten ist der Beitrag von Rieber. Er stempelt traditionelle Erklärungsmuster der russischen Außenpolitik der vergangenen Jahrhunderte schlichtweg als Mythen: den grenzenlosen russischen Expansionismus; den Drang zu den war­men Meeren; den Messianismus, der sich etwa aus der Vorstellung des Dritten Rom oder aus der marxistisch-kommunistischen Ideologie gespeist hat. Diese alten Deutungen ersetzt er durch den Begriff der „persistent factors“, also der Grundkonstanten, welche die russische Außenpolitik über die Jahrhunderte hinweg geprägt hätten. Er behandelt vier solcher Konstanten: die relative wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands; die „porösen“ russischen Grenzen, die der Expansion keinen Einhalt hätten bieten können; die multiethnische Gesellschaft Russlands und seine „kulturelle Entfremdung“. Unter dem letzten, zunächst wenig eingängigen Begriff versteht er im wesentlichen die Abgeschiedenheit der russischen Geschichte von der kulturellen Entwicklung Mittel- und Westeuropas. Alle vier Begriffe sind aber bei näherer Betrachtung banal und treffen eigentlich auf alle Reichsbildungen in der neueren Geschichte zu (etwa das Osmanische Reich, das Habsburgerreich, das Britische Empire usw.). Obwohl – wie gesagt – die Beiträge von den Autoren untereinander ausgetauscht worden sind und Riebers vier „persistent factors“ von den Kollegen aufgegriffen und gelobt werden, stehen manche ihrer eigenen Ausführungen doch im Widerspruch zu Rieber: So stellt z.B. Rozman zu Recht fest, dass der Öl- und Gasreichtum der heutigen russischen Außenpolitik wieder den Weg zu großer Macht- und Einflussentfaltung öffnet (S. 346). Er weist ebenfalls zu Recht darauf hin, dass Russlands Festsetzen in Vladivostok 1860 dem Reich den „Warmwasser­zu­gang“ zum Pazifischen Ozean ermöglicht hat (S. 361).

Bemerkenswert ist überhaupt, dass zwar Öl und Gas als ‚Waffen‛ in der Hand der russischen Regierung von vielen Beiträgern genannt (z.B. S. 98, 125, 258, 346, 425, 457–458), aber nie thematisiert werden. Was die historische Tiefendimension aller Beiträge auch unvorteilhaft kennzeichnet, ist, dass das Phänomen der orientalischen Frage, also das Bestreben Russlands vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, das Osmanische Reich zu beerben, fast gar nicht auftaucht; der Begriff „türkische Meerengen“ – ein säkulares russisches Ziel – wird kein einziges Mal genannt. Für den Historiker ist also die Zusammenstellung der acht Beiträge zur russischen Außenpolitik nicht immer erkenntnisfördernd, für den Politologen mag das anders sein.

Winfried Baumgart, Mainz

Zitierweise: Winfried Baumgart über: Robert Legvold (ed.) Russian Foreign Policy in the Twenty-First Century and the Shadow of the Past. Columbia University Press New York 2007. X. = Studies of the Harriman Institute Columbia University. ISBN: 978-0-231-14122-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Baumgart_Legvold_Russian_Foreign_Policy.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Winfried Baumgart. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de