Andreas Frings (Hrsg.) Neuordnungen von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten. Lit Verlag Berlin [usw.] 2006. 198 S. = Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 2. ISBN: 978-3-8258-8044-6.

Das Bändchen vereint fünf Fallstudien, die von einem hohen Anspruch zusammengehalten werden – ob die Studien für das Konzept der „Lebenswelten“ die Erwartungen des Herausgebers einlösen, möchte ich offen lassen, aber hinter den stellenweise sehr bemühten theoriebezogenen Einlassungen öffnet sich dankenswerterweise immer wieder der Blick auf das konkrete, verstandene und auch erklärbare Handeln von Menschen im Umbruch der frühen Sowjet­union bzw. der nachsowjetischen Neuordnung.

Andreas Frings möchte mit seinem Beitrag „Der Schleier als Ausdruck lokaler Renitenz? Reaktionen auf die ‚Befreiung der Frau‘ in der frühen Sowjetunion“ jüngere empiriegesättigte Studien zur Hujum-Kampagne mittels eines neuen Erklärungsansatzes ergänzen. Ein interessanter Versuch, der gleichwohl durch Fehlannahmen wie die, dass vormals Schleier und Segregation Marker von Reichtum gewesen seien oder dass sich Prostituierte bevorzugt entschleiert hätten, eben so an Überzeugungskraft verliert wie durch die aus keiner Empirie belegte Grundannahme, die oszillierenden policies der 1920er Jahre hätten Akteuren – die über ihre Möglichkeiten dann auch noch ausreichend orientiert gewesen wären – überhaupt ein Handeln ermöglicht, das sich heute im Sinne von rational choice erklären ließe.

Christian Teichmanns Versuch mit „Kollektivierung tatarisch. Asekeevo, Mittlere Wolga 1929–1930“, gewaltbetonte Ausschreitungen in einem ethnisierten Umfeld zu analysieren, wirft Licht auf ein Stück brüchig-abgründige dörfliche Lebenswelt und lässt nur einen Wunsch offen: Dass (z.B. S. 124) auch der rurale Niederschlag des ideologischen Kampfes rund um die „Sultangalievščina“ gewürdigt worden wäre.

Marlies Bilz zeichnet mit „Stiefkinder der Nation. Zur Brisanz der Kategorie ‚krjašeny‘ im rus­sischen Zensus von 2002“ die Selbstbehauptungsdiskurse von muslimischen und christlichen Tataren im Streben nach Autonomie bzw. Partizipation nach. So inspirierend das Konzept der „Vagheit“ für Binnendifferenzierungen in der „tatarischen Nation“ ist, so unerklärt bleibt leider die empirische Grundlage, auf der diese „Standortbestimmungen“ vorgenommen wurden – woher stammen die Parameter, und wer hat sie gewichtet?

Die beiden Aufsätze, die m.E. ein gutes Verhältnis von Theorie und Empirie aufweisen und daher voll überzeugen, rahmen das Büchlein ein: Julia Chmelevskaja zeigt mit ihrem eröffnenden Beitrag „Kampf gegen den Hunger in der Ural-Region 19211923“ am Beispiel des Zusammenwirkens der „American Relief Administration“, ihrer lokalen Mitarbeiter aus alten Eliten, der regionalen und Moskauer Machthaber und der verbal hochgewerteten ländlichen und städtischen Unterschicht die Bandbreite von Orientierungsversuchen und Handlungsstra­tegien von Menschen, deren Erfahrungswissen durch politische Umbrüche und eine natur- und menschengemachte Hungerkatastrophe radikal entwertet worden war. Der material- und gedankenreiche Beitrag liest sich darüber hinaus wie eine Parabel auf die (fehlende) Interventionskultur bei politisch-ökonomischen Krisen des frühen 21. Jahrhunderts. Schade, dass Fehler und Ungelenkigkeiten der Übersetzung diesen hochinteressanten Text stellenweise verzerren.

Christine Hunner-Kreisel schließt den Reigen mit ihrem Beitrag „Religiosität bei aser­baid­schanischen Jugendlichen als Chance. Funktionen von Religiosität bei jugendlichen Frauen in zwei Moscheen“: Unter den Bedingungen eines erzwungenen Moratoriums (Ehe- und/oder Arbeitslosigkeit, …) oder insgesamt einer radikal erschütterten Lebenswelt (Bürgerkrieg, Verlust der Familie, …) finden junge Mädchen und Frauen Orientierung in gelebter Religiosität – ein Phänomen, das für den Bereich der männlichen Jugend dringend ähnlich kompetent untersucht werden müsste.

Ingeborg Baldauf, Berlin

Zitierweise: Ingeborg Baldauf über: Andreas Frings (Hrsg.) Neuordnungen von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten. Lit Verlag Berlin [usw.] 2006. Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 2. ISBN: 978-3-8258-8044-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 316: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Baldauf_Frings_Neuordnungen.html (Datum des Seitenbesuchs)