Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  416-417

Manfred Alexander Kleine Geschichte der böhmischen Länder. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2008. 611 S., Tab., 1 Kt. ISBN: 978-3-15-010655-6.

Es ist nicht noch nicht lange her, da schrieb sich die Geschichte der böhmischen Länder quasi von selbst, nämlich als permanentes Ringen zwischen Tschechen und Deutschen, als vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart reichendem „Volkstumskampf“. Dass diese auf beiden Seiten gebetsmühlenartig wiederholte, nationalistisch gefärbt Meistererzählung mittlerweile selbst auf dem Kehrichthafen der Geschichte gelandet ist, wird man zwar allgemein begrüßen, doch macht dies die Aufgabe, heute die Geschichte der böhmischen Länder zu erzählen, nicht einfacher. Welche Leitperspektive bietet sich als alternative Deutungsachse an?

Manfred Alexander meistert dieses Problem relativ konventionell, indem er die Entwicklung der böhmischen Länder nach den weithin bekannten politischen Zäsuren, Herrschaftsformen und Epochen organisiert, ohne einen spezifischen „Sinn“ in sie hineinzuinterpretieren. Er beginnt mit einem kurzen Kapitel über die Anfänge im Großmährischen Reich, gefolgt von einem längeren Abschnitt über das „Zeitalter der Přemysliden“, der bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts reicht. Anschließend beschäftigt sich Alexander mit „Böhmens Ruhm und Fall unter dem Haus der Luxemburger“ (1310–1437), um dann auf die „böhmischen Länder als konfessionell gespaltene[n] Ständestaat zwischen den Dynastien“ (1437–1620) und die „absolutistische Herrschaft des Hauses Habsburg“ (1620–1790) einzugehen. Es folgen Kapitel über die Phase, die von der Französischen Revolution über die Ära der Restauration bis zur Revolution von 1848 reicht, über die „gespaltene Gesellschaft der böhmischen Länder“ (1848–1918), die Erste Republik und die NS-Besatzungsherrschaft (1918–1945) sowie über „Tsche­chen und Slowaken vor und unter der Herrschaft der KPČ“ (1945–1989). Ein kurzer Abschnitt, der den „Tschechen in der parlamentarischen Demokratie und in der Marktwirtschaft“ (1990–2007) gewidmet ist, schließt die Darstellung ab.

Zwar liegt der Schwerpunkt auf der politischen Ereignisgeschichte, doch enthält fast jedes Kapitel einen Abschnitt über die Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in der jeweiligen Periode. Allerdings operiert Ale­xander mit einem eingeschränkten Kulturbegriff, der kaum mehr als die klassische Hochkultur und das Bildungswesen beinhaltet. Jedem Kapitel vorangestellt ist ein knapper Epochenüberblick sowie eine Zeittafel, was die rasche Orientierung erheblich erleichtert – ein Ersatz für das fehlende Sach- und v.a. Ortsregister ist dies freilich nicht. Als Nachschlagewerk eignet sich die vorliegende Gesamtdarstellung daher kaum. Ausbaufähig wäre auch der knappe, chro­nologisch-thematisch gegliederte Abschnitt mit Literaturhinweisen, der dem Leser einige zentrale Studien zur intensiveren Beschäftigung mit der Geschichte der böhmischen Länder an die Hand gibt.

Inhaltlich bewegt sich Alexanders Synthese weitgehend auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes, was angesichts der Publikationsflut der letzten zwanzig Jahre eine beachtliche Leistung darstellt. Das gilt nicht zuletzt für die Frage nach den ethnischen Konflikten und ihrem Stellenwert, die Alexander keinesfalls unter den Tisch fallen lässt: So geht er beispielsweise auf die deutschen Siedlungsbewegungen im Zeitalter der Přemysliden ein, hält jedoch fest, „dass keine nationale ‚Sendung‛, etwa durch einen angeblichen ‚deutschen Drang nach dem Osten‛ im ‚Blut‛ deutscher Bauer vorliegen“ könne (S. 84). Dementsprechend resultierte daraus kein „Volkstumskampf“, „sondern die Entstehung eines ethnischen Dualismus, des­sen Kennzeichen ein enges Miteinander und eine stete Beeinflussung in beide Richtungen war.“ (S. 85) Als diesbezügliche Zäsur interpretiert Alexander erst die Revolution von 1848: „In der utraquistischen, d.h. zweisprachigen Gesellschaft Böhmens hatte sich ein Riss entlang der Sprachengrenze aufgetan, der sich ständig vertiefte und nie mehr heilen sollte.“ (S. 318)

Alexander erzählt die Geschichte der böhmischen Länder mit viel Sympathie, aber ohne die Leidenschaften früherer Zeiten. Als deutscher Autor beweint er nicht länger die Verluste des „nationalen Besitzstandes“ im Sinne Heinrich Rauchbergs. Insofern manifestiert sich in diesem Buch ein neuer, europäisch orientierter Zeitgeist, der sich von den ethnisch-nationalen Antagonismen des 19. und 20. Jahrhunderts endgültig verabschiedet hat. Nicht zuletzt dieser Umstand wird die eingängig geschriebene Arbeit von Manfred Alexander auf Jahre hinaus lesenswert machen.

Jaromír Balcar, Bremen

Zitierweise: Jaromír Balcar über: Manfred Alexander Kleine Geschichte der böhmischen Länder. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2008. ISBN: 978-3-15-010655-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 416-417: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Balcar_Alexander_Kleine_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)