Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Joachim Bahlcke

 

Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Hrsg. von Stefan Samerski. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2009. 305 S., 3 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-506-76679-3.

Wäre es nach dem Willen der aufgeklärten Gesetzgeber im 18. Jahrhundert gegangen, hätte das vorliegende Sammelwerk über die Landespatrone der böhmischen Länder deutlich schmaler ausfallen können. Denn ein von Papst Clemens XIV. gutgeheißenes Hofdekret Maria Theresias vom 6. Oktober 1771 sah eine deutliche Einschränkung der einzelnen Landespatrone vor: Künftig sollte der Gedenktag nur noch „eines vornehmen Schutzheiligen“ pro Kirchensprengel öffentlich gefeiert werden. Hintergrund waren die Bemühungen der Landesherrin um eine Reduktion der Feiertage und um eine Einschränkung der Barockfrömmigkeit. Es habe die Erfahrung gelehrt, heißt es in dem Hofdekret weiter, dass „der von der heiligen Kirche selbst sowohl, als vom höchsten Orte abgezielte heilsame Endzweck noch keineswegs das Ziel erreichet hat, indem einige in ihrer Handarbeit sehr beschäftigte Unterthanen das Gebot, Messe zu hören, gänzlich vernachlässiget, andere aber eben diese Obliegenheit an dem Vorabende zu fasten, und an dem Festtage selbst der heiligen Messe beizuwohnen, zum Deckmantel gebrauchet, folgbar, wie vorhin, dem Müssiggange nachzuhängen, und die ihnen lediglich zu ihrer eigenen, und dem gemeinsamen Besten erlaubten Hand- und Feldarbeiten zu vernachlässigen, nicht verabscheuet haben“. Auf Intervention des Prager Erzbischofs beließ Maria Theresia für Böhmen mit Wenzel und Johannes von Nepomuk immerhin zwei Landespatrone, die in den Schematismen der Erzdiözese als „patrones Bohemiae principales“ bezeichnet wurden.

Wenige Jahrzehnte später gewannen die Landespatrone allerdings im Zuge nationaler Bewegungen wieder eine Bedeutung, die ihnen als religiösen Identifikations- und Memorialfiguren, als territorialen, gruppenspezifischen und quasi ‚politischen‘ Heiligen bei Lichte besehen schon im Mittelalter eigen war. Immer stärker wurden sie fortan als Nationalpatrone zu staatlich und ethnisch aufgeladenen Symbolen. Um in einem solchen, dem kirchlichen Einflussbereich nahezu vollständig entzogenen Kontext als offizieller Nationalpatron zu gelten, bedurfte es keiner vorhergehenden Heiligsprechung – dies wird bei Jan Hus deutlich, der in diesem Band ebenso berücksichtigt wird wie kanonisierte Erinnerungsfiguren der böhmischen Länder, die zum Teil auch jenseits der Landesgrenzen verehrt wurden und werden. Generell gilt, dass die Zusammensetzung der Landespatrone stets von den jeweiligen politischen, religiösen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig war und insofern einem fortwährenden Wandel unterlag.

Zur Kurien- und Frömmigkeitsgeschichte, speziell zur Kanonisationspraxis und zum Heiligenkult hat der Herausgeber des vorliegenden Sammelwerks, das in Zusammenarbeit mit dem Sozialwerk der Ackermann-Gemeinde München zustande kam, eine große Zahl einschlägiger Forschungen vorgelegt. Genannt werden soll zumindest die 2007 von Stefan Samerski vorgelegte Aufsatzsammlung „Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert“, die ähnlich wie das Buch über Geschichte, Verehrung und Gegenwart der Landespatrone der böhmischen Länder Phänomene und Prozesse religiöser Identitätsstiftung bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verfolgt. Für sein jüngstes Werk konnte der Münchener (katholische) Kirchenhistoriker erneut prominente Fachwissenschaftler verschiedener Disziplinen aus Deutschland und Tschechien gewinnen.

In dem Werk, das sich als Mischung aus Nachschlagewerk und Lesebuch versteht, werden alle offiziellen Landespatrone Böhmens, Mährens, Schlesiens und der Lausitzen (Adalbert, Agnes von Böhmen, Hedwig von Schlesien, Iwan, Johannes von Nepomuk, Johannes Sarkander, Joseph, Kosmas und Damian, Kyrill und Method, Ludmilla, Maria, Norbert von Xanten, Prokop von Sázava, Sigismund, Veit, Wenzel und Wolfgang) sowie der bereits genannte Jan Hus in eigenen Personenartikeln gewürdigt, die jeweils zunächst die Lebensgeschichte, dann die spezifischen Verehrungsformen nachzeichnen und dabei auch Wallfahrten, Zeugnisse aus der Architektur, der Bildenden Kunst und der geistlichen Literatur berücksichtigen. Angaben zu den Quellen und wichtige Forschungsbeiträge werden nicht als Einzelbelege, sondern blockweise am Ende der Beiträge genannt. Über die instruktive Einführung des Herausgebers hinaus informieren zwei Überblicksartikel zum einen über den Kanon und die Ikonographie der böhmischen Länderpatrone, zum anderen über kirchliche Raumstrukturen und Organisationsebenen der böhmischen Ländergruppe. Im Ergebnis, so Samerski, werde deutlich, dass es „bei keiner Memorialgestalt Statik und Konstanz gibt, sondern man mit Neueinsätzen, unterschiedlichen Funktionalisierungen und Intensitäten sowie mit einer wechselnden Klientel zu rechnen hat“ (S. 18). Abgerundet wird das informative Werk, das parallel in einer tschechischen Ausgabe erscheinen soll, durch Kartenmaterial sowie Übersichten mit Amtsdaten der böhmischen Landesherren, der Päpste und Prager (Erz-)Bischöfe.

Joachim Bahlcke, Stuttgart

Zitierweise: Joachim Bahlcke über: Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Hrsg. von Stefan Samerski. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2009. 305 S., 3 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-506-76679-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bahlcke_Landespatrone_der_boehmischen_Laender.html (Datum des Seitenbesuchs)

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