J. Arch Getty, Oleg V. Naumov Yezhov. The Rise of Stalin’s „Iron Fist“. With the assistance of Nadezhda V. Muraveva. Yale University Press New Haven, London 2008. XXV, 283 S. ISBN: 978-0-300-09205-9.

Wie konnte es geschehen, dass auf Befehl und im Namen Stalins Millionen Menschen ihre Freiheit und ihr Leben verloren? Auf diese Frage haben Historiker unterschiedliche Antworten gegeben. Eine dieser Antworten lautete: weil Stalin treu ergebene Helfer hatte, die ausführten, was er von ihnen verlangte. Zu diesen Helfern gehörte Nikolaj Ežov, der zwischen 1936 und 1938 als Volkskommissar für Innere Angelegenheiten und „eiserne Faust“ Stalins den Massenterror exekutierte. Ežov war ein skrupelloser Terrorist, der Hunderttausende in den Tod schickte, wenn es dem Diktator gefiel, und der keine Hemmungen hatte, selbst Freunde und Ver­wandte foltern und töten zu lassen. Wie lässt sich ein solches Handeln verstehbar machen? Durch die Erhellung von Motiven und Handlungsmöglichkeiten, die Ežov in einen gewissenlosen Mörder verwandelten, so könnte man antworten. Aber worin bestanden diese Motive und in welchem Kontext lösten sie Handlungen aus? Auf diese Frage haben Marc Jan­sen und Nikita Petrov vor einigen Jahren ge­ant­wortet, Ežov sei ein ungebildeter, gewalttätiger und sexuell abartiger Handlanger gewesen, dessen sich Stalin jederzeit nach Belieben habe bedienen können.

Solche Urteile, schreibt Arch Getty, beruhten auf zweifelhaftem Wissen. Denn alle Informationen, die Ežov als Sadisten und Psychopathen beschrieben, stammten von Ežov selbst. Nach seiner Verhaftung sei er gefoltert und gezwungen worden, sich auf diese Weise darzustel­len. Deshalb könne man solchen Aussagen auch keinen Glauben schenken. Getty porträtiert Ežov als sanften, freundlichen und intelligenten Menschen, der zum Mörder geworden sei, weil er geglaubt habe, das Richtige zu tun. Wenn er gelesen habe, dann habe er Lenin gelesen. Man müsse sich Ežov als einen Ideologen vorstellen, der nur vollstreckte, wovon er ohnehin überzeugt gewesen sei. Gläubige können, so ist Getty zu verstehen, zu Mördern werden, auch wenn sie selbst keine Gewalttäter sind. Nur erfährt man in diesem Buch, das den Weg Ežovs an die Macht erzählt, überhaupt nichts über ideologische Überzeugungen und Bekenntnisse. Sie werden in der Einleitung erwähnt, tau­chen in der Darstellung aber nicht mehr auf.

Stattdessen erzählt Getty, wie Nikolaj Ežov auf der Karriereleiter nach oben stieg: als Kommissar während des Bürgerkrieges, als Partei­sekretär im kazachischen Semipalatinsk und als Mitarbeiter des Zentralkomitees, in dessen Sekretariat er diente, bevor Stalin ihn entdeckte und für höhere Aufgaben einsetzte. Zu Beginn der dreißiger Jahre stieg Ežov schließlich zum stellvertretenden Volkskommissar für Landwirtschaft und zum Chef der Kaderabteilung im Sekretariat des Zentralkomitees auf. Er wurde Mitglied des Organisationsbüros, organisierte die Parteisäuberungen der frühen dreißiger Jahre und wurde 1936 auf Stalins Veranlassung Nach­folger Genrich Jagodas im Amt des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten. Aber zu keiner Zeit schien sich Ežov für die ideologischen Debatten der Intellektuellen zu interessieren. Die Frage, was die permanente Revolution oder die ursprüngliche sozialistische Akkumula­tion sei, hielten die stalinistischen Funktionäre der Tat für irrelevant. Für sie war nur von Bedeutung, dass sie sich in den Auseinandersetzungen zwischen Familien, Clans und Seilschaften in den lokalen Parteikomitees auf die Unterstützung Stalins verlassen konnten. So sah es auch Ežov, der, wenn man Getty glauben will, nur damit befasst war, sich Einfluss zu verschaffen, Konkurrenten aus dem Weg zu räumen und alles zu tun, um nach Moskau in den zentralen Apparat versetzt zu werden.

Von Anbeginn versuchte Ežov, die Aufmerk­samkeit Stalins auf sich zu ziehen. Sobald er stellvertretender Volkskommissar für Landwirtschaft geworden war, begann er sofort damit, „Schädlinge“ aus dem Apparat zu entfernen und Schrecken zu verbreiten. Als Chef der Kaderabteilung schlug er Stalin Beförderungen und Versetzungen vor und als Mitglied des Führungskreises empfahl er dem Diktator schon 1935, Illoyalität mit dem Tod der Verdächtigen zu bestrafen. Seine Stunde kam, als Stalin ihn damit beauftragte, den Mord am Leningrader Parteichef Kirov zu untersuchen. Diesen Auftrag nutzte Ežov, um Stalin von der Existenz einer großen Verschwörung ehemaliger Oppositioneller zu überzeugen und alle Konkurrenten um die Macht in den Verdacht einzubeziehen. Ežov sammelte Material gegen jedermann, er schrieb Berichte über ungewöhnliche Ereignisse und präsentierte sie Stalin als Verschwörungen, und er legte Dossiers über die Funktionäre des Regimes an. Getty beschreibt Ežov als jemanden, der von Ehrgeiz zerfressen war und für den Aufstieg in den inneren Kreis der Macht vor keiner Niedertracht zurückschreckte. Geschickt streute er Gerüchte, verdächtigte seine Widersacher und weckte so das Misstrauen des Diktators. Im Sommer 1936 hatte Ežov sein Ziel erreicht, als Stalin ihn zum Volkskommissar für innere Angelegenheiten ernannte und seinen Wi­dersacher Jagoda entmachtete.

Getty präsentiert den Lesern eine Geschichte, in der Ežov den Diktator nach Belieben manipulierte. Stalin und seine Machttechniken kommen in diesem Buch nur am Rand vor. Dabei werden doch Ežovs Möglichkeiten überhaupt nur verständlich, wenn man sie im Kontext des Stalinschen Hofes beschreibt. Stalin hatte Ežov als seine Kreatur geschaffen und vernichtete sie, als er ihrer nicht mehr bedurfte. In Stalins Gegenwart war jedermann dem Verdacht ausgesetzt und mit dem Tod bedroht. Ežov wusste, dass es so war, und deshalb versuchte er, sich der Techniken zu bedienen, die der Diktator erzeugt hatte, um seine Gefolgsleute in Schach zu halten. Aber er war in diesem Spiel kein Regisseur, sondern nur ein Schauspieler, der aufführen konnte, wozu Stalin ihn ermächtigt hatte. Getty weiß von all dem nichts, weil er die Dokumente, auf die er sich beruft, abschreibt, aber nicht interpretiert. Die bolschewistischen Führer, sagt Getty zu seiner Rechtfertigung, hätten einander nicht angelogen, weil sie einen Job zu erledigen hatten und es deshalb ineffizient gewesen wäre, einander absichtlich zu täuschen. Deshalb könne man den Informationen, die in der internen Korrespondenz der Behörden verbreitet worden seien, auch Glauben schenken. Nichts ist von der Wirklichkeit der stalinistischen Despotie weiter entfernt als diese Behauptung. Und deshalb erfährt man in diesem Buch auch nur, was die Dokumente der sowjetischen Partei- und Regierungsbehörden über den Menschen Ežov preisgeben. Das ist wenig, fast gar nichts. Eine Biographie, die über den Menschen, die sie beschreiben will, so gut wie nichts verrät, aber hat ihr Ziel verfehlt.

Jörg Baberowski, Berlin

Zitierweise: Jörg Baberowski über: J. Arch Getty, Oleg V. Naumov: Yezhov. The Rise of Stalin’s “Iron Fist”. With the assistance of Nadezhda V. Muraveva. Yale University Press New Haven, London 2008. ISBN: 978-0-300-09205-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 303: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Baberowski_Getty_Yezhov.html (Datum des Seitenbesuchs)