Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 113-115

Verfasst von: Martin Aust

 

Christopher Read: War and Revolution in Russia, 1914–22. The Collapse of Tsarism and the Establishment of Soviet Power. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2013. XIV, 249 S., 1 Kte. = European History in Perspective. ISBN: 978-0-230-23986-9.

Joshua A. Sanborn: Imperial Apocalypse. The Great War and the Destruction of the Russian Empire. Oxford, New York: Oxford University Press, 2014. IX, 287 S., 11 Ktn. = The Greater War. ISBN: 978-0-19-964205-2.

Der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs 2014 und das bevorstehende Centennium der Russischen Revolution 2017 haben den Buchmarkt fest im Griff. Die Titel von Christopher Read und Joshua A. Sanborn sind rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erschienen und betten die Revolutionen in Russland 1917 in den größeren Zusammenhang des Ersten Weltkriegs ein. Beide Autoren wenden sich nicht zum ersten Mal ihren Themen zu. Read hat seit 1979 mehrere Publikationen über die Russische Revolution vorgelegt, und Sanborn knüpft an seine Forschung über Militär und Gesellschaft in Russland von 1905 bis 1925 an. Über diese formalen Gemeinsamkeiten hinaus läuft die Lektüre beider Bücher in einem inhaltlichen Punkt zusammen: Nikolaus II. und die Armeeführung des Zarenreiches erscheinen in ihnen als die größten Revolutionäre. Nikolaus II. autokratische Beratungsresistenz und die Praktiken der Militäradministration in den Frontregionen haben zu einem Großteil erst jene Unzufriedenheit und Nöte geschaffen, auf deren Boden die Revolution gedeihen konnte.

Darin erschöpfen sich jedoch die Gemeinsamkeiten beider Bücher. Read hat für seine Überblicksdarstellung einen nüchternen Titel gewählt, der Zeitraum, Region und zwei Ereignisse sachlich benennt. Sanborns Imperial Apocalypse ist ein symbolträchtiger Titel, der den Fokus auf den Untergang des Russländischen Reiches im Untertitel trägt. Während Read seinen Lesern den aktuellen Forschungsstand gebündelt präsentiert, hat Sanborn ein analytisch-typologisches Konzept erarbeitet, mit dem er die russische Revolutionsgeschichte in die Geschichte der Dekolonisation einschreiben möchte. Sanborn unterscheidet vier Phasen der Dekolonisation: imperial challenge, state failure, social disaster und state-building (dekolonisierter Gesellschaften). In Kapiteln über den Kriegsausbruch und die Randregionen des Zarenreiches, die wandernden Fronten, die Mobilisierung von Militär und Gesellschaft, Revolution und Dekolonisation sowie einem Schlusskapitel über die imperiale Apokalypse buchstabiert Sanborn seine Typologie der vier Phasen aus. Read stützt sich auf das reichhaltige Material edierter Quellen und Literatur. Sanborn hat umfangreiche Archivarbeit geleistet. Neben individuellen Überlieferungen in Moskau und den Hoover Institution Archives hat er vor allem Bestände zur Geschichte der Armee und Gendarmerie, aber auch der zivilen Administration in Riga, Kiev, St. Petersburg und Moskau eingesehen.

Reads Buch hält, was sein Titel verspricht. Aus dem ganzen Fundus der Revolutionsliteratur schöpfend, hat Read einen prägnanten und eleganten Überblick geschrieben. Meistens gelingt es Read sehr gut, den unverwüstlichen Kern zentraler Ereignisse und Figuren der Revolutionsgeschichte mit den Befunden der jüngeren Forschungen vor allem über die Bauern und verschiedene Regionen Russlands zu einem flüssigen Text zu verknüpfen. Allein die Verflechtungen der Nationsbildungen an den Rändern des ehemaligen Imperiums mit der Revolutionsgeschichte wirken ab und zu additiv an die Kapitelenden angereiht. Hier wird deutlich, wie schwierig es ist, dem Überblickscharakter der Revolutionsgeschichte Genüge zu tun und zugleich die immensen Ergebnisse der jüngeren Forschungen zu Regionen und Nationsbildungen in die Erzählung der Revolution zu integrieren.

Die chronologische Vorgehensweise, die nicht auf den Beleg einer Generalthese zielt, ermöglicht es Read, die Qualitäten von Fluktuation, Offenheit und Kontingenz der Revolution gut zur Geltung zu bringen. Insbesondere für die Zeit von der Abdankung Nikolaus II. im Februar 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs 1922 weist Read immer wieder auf Erwartungshorizonte der Akteure und teils nicht-intendierte Folgen ihres Handelns hin. Die Darstellung von Selbstverständnissen, Kalkulationen und Fehlperzeptionen einzelner Akteure verhindert, dass die Revolutionsgeschichte als zwangsläufiger Prozess erzählt wird. Ein gewichtiger kollektiver Akteur ist in Reads Darstellung die Revolution der gewöhnlichen Menschen (popular revolution). Frieden, Brot und Land erhofften sich die meisten Menschen und gaben ihre politische Unterstützung jenen Gruppen, denen sie die Erfüllung ihrer Wünsche in der jeweiligen Situation am ehesten zutrauten.

Aufgrund des analytisch-konzeptionellen Anspruchs, eine neue Geschichte der Dekolonisation des Zarenreiches zu schreiben, ist Sanborns Buch nicht so sensibel gegenüber der Kontingenz der Revolutionsepoche. Die Dekolonisation des Zarenreiches zwingt der Darstellung einen Fluchtpunkt auf. Sie entlastet Sanborn jedoch zugleich vom Anspruch der ausgewogenen Überblicksdarstellung. Das führt dazu, dass die Auswirkungen von Krieg und Revolution in verschiedenen Räumen des Imperiums viel stärker im Vordergrund stehen. Wenn Sanborn die Interaktion zwischen Hauptquartier und einzelnen Armeen und zwischen Militär und Ziviladministration oder die Geschichte von Flüchtlingen und Deportationen darstellt, nimmt er seine Leser immer wieder in verschiedenste Regionen des Zarenreiches mit. Die räumliche Dimension des Imperiums kommt in Sanborns Darstellung zu ihrem vollen Recht. Problematisch ist demgegenüber Sanborns Analyse des Endes des Zarenreiches als ein Vorgang von Dekolonisation. So gewiss das Ende des Zarenreiches Nationalbewegungen neue Handlungsmöglichkeiten bot, erschöpft sich die Geschichte der Dekolonisation in den Räumen des ehemaligen Russländischen Reiches nicht im Ende der Zarenherrschaft. Während an die Stelle der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und des Osmanischen Reiches tatsächlich neue Nationalstaaten traten, reintegrierte die Sowjetunion einen Großteil des Territoriums des ehemaligen Zarenreiches. Lediglich die letzten fünf Seiten seines Buches widmet Sanborn diesem Phänomen. Dem janusköpfigen Phänomen sowjetischer Nationalitätenpolitik der frühen zwanziger Jahre – und damit auch dem Bürgerkrieg – hätte hier wesentlich mehr Aufmerksamkeit zukommen müssen. Während die Bol’ševiki einerseits einen großräumigen Herrschaftsverband wiederherstellten und Nationalstaatsgründungen wie die in der Ukraine zum Scheitern brachten, entwickelten sie in ihrem „Affirmative Action Empire“ (Terry Martin) eine Nationalitätenpolitik, die nach dem Ende des Wilsonian Moment 1919 das Potential eines globalen Modells besaß. Nachdem gerade in Indien und China alle auf Wilson projizierten Hoffnungen auf Dekolonisation zerstoben waren, präsentierten die Bol’ševiki eine Nationalitätenpolitik, die ihrem normativen Anspruch nach Differenz nicht hierarchisierte wie in den Kolonialreichen der Briten und Franzosen, sondern in einen Bund gleichberechtigter Nationen im sowjetischen Haus überführte. Dass Stalins Politik ab den späten zwanziger Jahren von dieser Konzeption abrückte, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls erschöpft sich eine Geschichte der Dekolonisation in Russland nicht in der Geschichte vom Ende des Zarenreiches. Die Globalgeschichte der jungen Sowjetunion muss im Konzept der Dekolonisation mitbedacht sein. Eine ganz andere Frage wäre es noch einmal, welchem Platz dem Vierteljahrhundert seit 1991 in einer Geschichte der Dekolonisation im Raum des ehemaligen Zarenreiches und der einstmaligen Sowjetunion zukommt.

Martin Aust, Bonn

Zitierweise: Martin Aust über: Christopher Read: War and revolution in Russia, 1914–22. The Collapse of Tsarism and the Establishment of Soviet Power. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2013. XIV, 249 S., 1 Kte. = European History in Perspective. ISBN: 978-0-230-23986-9; Joshua A. Sanborn: Imperial Apocalypse. The Great War and the Destruction of the Russian Empire. Oxford, New York: Oxford University Press, 2014. IX, 287 S., 11 Ktn. = The Greater War. ISBN: 978-0-19-964205-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Aust_SR_Russisches_Reich_WK_I_Revolution_Buergerkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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