Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Martin Aust

 

Aleksej I. Miller (red.) Nasledie imperij i buduščee Rossii. Moskva: Izdat. Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2009. 526 S. ISBN: 978-5-86793-631-0.

Die osteuropabezogene Publizistik und Fachwelt Deutschlands haben zuletzt ein Bild gezeichnet, das die jüngste Zeitgeschichte Russlands zwischen den Polen zweier imperialer Extreme einspannt. Das Unvermögen der sowjetischen Eliten, die späten achtziger Jahre als Zeit imperialen Niedergangs und Zerfalls zu erfassen, wird dabei mit der orthodox und eurasisch verbrämten imperialen Nostalgie der Putinzeit kontrastiert. Putins außenpolitische Agenda, Großmachtstatus und Weltgeltung anzustreben, hätten demzufolge willige Publizisten mit fragwürdigen imperialen Visionen unterstützt. Das ist nicht falsch und doch nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite bilden Beiträge der russischen Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaft, die den Zusammenhang zwi­schen den imperialen Vergangenheiten und der Zukunft Russlands thematisch weit gefächert und mit vergleichenden Blicken auf andere post­imperiale Szenarien des 20. Jahrhunderts analysieren. Dies belegt eindrucksvoll der Sammelband, in dem der Moskauer Historiker Aleksej Miller elf Aufsätze vereint hat, die in vier Kapitel gruppiert sind. Wenngleich unter einigen der Beiträger offen und direkt wissenschaftlich-politische Dispute ausgetragen werden, sind alle Artikel in einen rahmenden Konsens eingebunden, der aus vier Punkten besteht: erstens einem weit gefassten Imperiumsbegriff, der das Zarenreich und die Sowjetunion als Imperien unterschiedlichen Typs begreift; zweitens einem Imperativ der Differenzierung imperialen Erbes in Überreste einer fortdauernden Vergangenheit, gefährliche Erblasten und Ressourcen, die sich eventuell für die Zukunft Russlands nutzen lassen; drittens einem Bekenntnis zum territorialen Status quo der Russländischen Föderation und viertens einem Imperativ von Demokratisierung, Zivilgesellschaftlichkeit, ökonomischem Wachstum und Wohlstandsgewinn.

Im einzelnen thematisiert das erste Kapitel Imperium als Konzept und vorgestelltes Phänomen. A. I. Miller referiert den Stand der Imperialgeschichtsschreibung und diskutiert die aktuelle russische Geschichtspolitik. O. Ju. Mali­no­va stellt das Imperium in gegenwärtigen politischen Diskursen Russlands vor. N. E. Tichono­va analysiert die Vorstellung vom Imperium in den Köpfen der Menschen in Russland, soweit Meinungsumfragen darüber Aufschluss liefern. Das zweite Kapitel behandelt Russland in der Welt. I. B. Neumann thematisiert den Zusammenhang von russischem Großmachtstreben und dem Wunsch nach Anerkennung in Europa und in der Welt. A. S. Kustarev vergleicht die postimperiale Lage Russlands mit den entsprechenden Situationen Großbritanniens und Frank­reichs im 20. Jahrhundert. Das dritte Kapitel handelt von der sogenannten „russischen Welt“, d. h. dem Verhältnis zwischen der russischsprachigen Diaspora in den GUS-Ländern und im Baltikum und der Russländischen Föderation. I. A. Ze­velev beschreibt den Pragmatismus der russischen Regierung gegenüber der russischen Diaspora. T. M. Atnašev differenziert diese Diaspo­ra in drei Ringe der russischen Sprache im Ausland. N. T. Višnevskaja problematisiert die Migration in die Russländische Föderation. Das vierte Kapitel wirft die Frage nach Wegen vom Imperium zur Nation auf. Während N. V. Pet­rov hier eine regionale Perspektive eröffnet, dokumentieren die Beiträge von V. A. Tiškov und A. I. Miller einen Disput über das Verständnis von russischer und russländischer Nation.

Drei Problemfelder durchziehen den Band wie einen roten Faden. Erstens formulieren mehrere Beiträge explizite Kritik an der Innen- und Außenpolitik Präsident Putins. Die Anerkennung als Großmacht etwa hänge nicht allein von objektiven Faktoren wie militärischer Macht ab. Die Geschichte der Großmachtbeziehungen sei seit dem 18. Jahrhundert auch von einer intersubjektiven Komponente gekennzeichnet, die die Beurteilung innerer Verhältnisse und der Zivilisation eines Großmachtkandidaten in die Zuschreibung des Großmachtstatus einfließen lasse. Neumanns Beitrag schließt mit dem Befund, dass Putins Regierung jegliche Einsicht in diesen Mechanismus fehlt. Das Postulat einer Demokratisierung Russlands, das mehrere Beiträge vehement formulieren, vereint somit unterschiedliche Ziele: politische Teilhabe der Staatsbürger wie auch eine europäisch-westlich kompatible Herangehensweise an die Absicherung des Großmachtstatus. Im Umgang mit der sogenannten russischen Welt außerhalb der Russländischen Föderation fordern mehrere Beiträger eine rhetorische Abrüstung der russischen Außenpolitik und stattdessen eine stringente kulturelle Außenpolitik zur Förderung der russischen Sprache, die die russische Diaspora nicht zu einem Faustpfand einer säbelrasselnden Politik macht. Ein zweites großes Themenfeld bildet die Frage, inwieweit die vergleichenden Perspektiven in dem Band Zukunftskonzepte für Russland erhellen können. In der Summe laufen die Befunde eher auf eine ausgesprochen individuelle postimperiale Situation Russlands hinaus. Die Fälle Deutschlands, Japans, Großbritanniens und Frankreichs sind alle nicht auf die russische Postimperialiät übertragbar. Russland kann seine Demokratisierung keinem auswärtigen Hegemon überlassen wie Deutschland und Japan nach ihren im Zweiten Weltkrieg gescheiterten Imperiumsbildungen. Und anders als Großbritannien und Frankreich kann Russland sich weder in eine special relationship mit den USA begeben noch sich als Motor der europäischen Integration inszenieren. Den dritten Problemkreis bilden Fragen nach der russischen und der russländischen Nation. Tiškov plädiert für eine exklusive Konzentration auf die russländische Staatsbürgernation, da die Vorstellung von einer russischen Nation Ängste vor einem ethnisch aufgeladenen russischen Chauvinismus schüren könne. Miller hingegen plädiert für ein Mit- und Ineinander der russischen Kulturnation und der russländischen Staatsbürgernation, da letztlich die russische Sprache und Kultur jene Mittel seien, die die politische Teilhabe der russländischen Staatsbürger in praxi erst ermöglichten. Einen gemeinsamen Nenner finden beide im Ausschluss eines ethnischen Nationsverständnisses. Nach den Arbeiten von Charles Maier, Ulrich Beck und Edgar Grande, Herfried Münkler und Jan Zielonka liegt mit diesem Sammelband ein Titel vor, der am Beispiel Russlands Gegenwarts- und Zukunftsfragen imperialgeschichtlich und postimperial diskutiert und den genannten Arbeiten ebenbürtig an die Seite zu stellen ist. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es in Russland und der Welt an den Schnittstellen von Geschichtsschreibung, Öffentlichkeit und Politik viele aufmerksame Leser findet.

Martin Aust, München/Regensburg

Zitierweise: Martin Aust über: Aleksej I. Miller (red.) Nasledie imperij i buduščee Rossii. Izdat. Novoe Literaturnoe Obozrenie Moskva 2009. ISBN: 978-5-86793-631-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Aust_Miller_Nasledie_imperij.html (Datum des Seitenbesuchs)

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