Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), H. 3, S. 425-433

Verfasst von: Inge Auerbach

 

Inge Auerbach, Marburg/Lahn

Kühner als das Unbekannte zu erforschen, kann es sein,
das Bekannte zu bezweifeln

Alexander v. Humboldt

 

Besprechung von:

Cornelia Soldat: Das Testament Ivans des Schrecklichen von 1572 – eine kritische Aufklärung. A Textual Analysis of the 1572 Will of Ivan the Terrible. With a foreword by Russell E. Martin. Lewiston, Queenstown, Lampeter: The Edwin Mellen Press, 2013. 510 S. ISBN: 978-0-7734-4553-6.

Die Untersuchung steht in der Keenan-Tradition des Zweifels an der Echtheit altrussischer Quellen. Hier geht es um den Nachweis, das sog. Testament Ivans IV. von 1572 gehöre in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang der Erschaffung des russischen Mittelalters durch die Erfindung vorgeblich alter Quellen. Das kommentierte Testament, so meint Soldat, sei literarisches Spiel, eine Rahmenerzählung, wie sie Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts beliebte Form gewesen sei. Erfüllt würden die Interessen eines idealen Lesers vom Anfang des 19. Jahrhunderts, der sich an einer neuen Quelle zu Ivan IV. erfreut, weil in dieser ihm bereits Bekanntes erwähnt, die Staatsform der Autokratie als die Russland angemessene verherrlicht werde, vor allem aber der Zar durch eine Beichte seiner Sünden an die „Confessions“ von Rousseau erinnere und seine durch eine Koseform des Vornamens vorgespiegelte intime Beziehung zur ersten Frau Anastasija Romanovna dem Bedürfnis der Untertanen nach der Idealfamilie auf dem Thron – Mode seit der preußischen Königin Luise und besonders durch Napoleon in seiner zweiter Ehe mit einer Habsburgerin – als Orientierungspunkt für die Gestaltung des eigenen Familienlebens entgegenkomme. Die erwähnten Regalien kenne der historisch Interessierte von einem Besuch des Museums der Oružejnaja palata aus eigenem Augenschein und seine Phantasie werde durch eine dunkle Stelle, die nur durch die beim Leser eingeforderte Kenntnis der deutschen Sprache aufzulösen sei (deutsch: Szepter, aruss.: skipetr, Testament skatert) beflügelt (S. 419 ff.).

In den Verdacht, das Testament erfunden zu haben, gerät Aleksej Fedorovič Malinovskij, der über Jahre hinweg Karamzin mit Quellen für dessen russische Geschichte versorgt hat. Karamzin, stets für „interessantes“ Archivmaterial dankbar, erhielt das Testament 1822, also gerade noch rechtzeitig, um es auszugsweise in den Anmerkungen zum 10. Band seiner „Istorija Gosudarstva Rossijskago“ von 1824 zu publizieren. Alle weiteren russischen und in Übersetzung erschienenen Ausgaben seine Werkes enthalten nach Soldats Haupttext diesen Hinweis nicht mehr – ein Indiz dafür, dass der Historiograph inzwischen erkannt hatte, dass der Archivar Malinovskij ihn hereingelegt hatte (S. 66 f., S. 127)?

Soldat verweist übrigens nur versteckt, in der Fußnote auf die für ihre These schädliche Feststellung Stökls, die dritte russische Auflage von Karamzins Werk enthalte eine, wenn auch verkürzte, Fassung des Testaments (S. 127)1. Dieses halbe Verschweigen scheint Methode zu sein, denn auch der Hinweis auf einen Echtheitsnachweis für Kurbskijs 1. Brief an den Zaren (nur für diesen, nicht für die Antwort Ivans IV., so Soldat) findet sich ebenfalls dort (S. 12 f., Anm. 25).    

Das Testament Ivans IV. steht, so Soldat, in der Tradition einer ganzen Reihe von gefälschten Zarentestamenten des 18. Jahrhunderts, und es gehöre zu den Fälschungen alt­russischer Texte, die dem gesteigerten Interesse und der Handschriftensammelwut der historisch Engagierten an Quellen entgegenkamen, was unter A. I. Bardin zur Entstehung einer ganzen Fälscherwerkstatt  geführt hat. Das Igorlied gehört wohl in diese Tradition.

Das trifft jedoch auf Kurbskijs Werke nicht zu, die Soldat (S. 1213), in der Keenan-Tradition stehend, weiter im Kern für Arbeiten des 17. Jahrhunderts hält und an den Anfang dieser Fälschertradition einordnet.

Die Kurbskij-Forschung ist inzwischen weitergekommen. Vor allem dürfte im Nachwort zur Ausgabe des „Novyj Margarit“ durch die Rezensentin auf der Basis von Handschriften aus dem 16. Jahrhundert nachgewiesen worden sein, dass Kurbskij schriftstellerisch tätig war, dass er weitere theologische Arbeiten – ebenfalls handschriftlich aus dem 16. Jahrhundert überliefert – verfasst hat, und dass Eigenzitate in der „Istorija o velikom knjaze Moskovskom“ und Querverweise zwischen allen seinen Arbeiten untereinander nur möglich waren, wenn diese in Wolhynien geschrieben worden sind. Mit Kurbskijs dortiger Kanzlei und den Mitarbeitern bei dem Übersetzungswerk befasst sich unsere Kurbskij-Biographie,2 mit der Datierung seiner Werke unser Nachwort zum „Novyj Margarit“, dem Kalugin in seiner neue Fakten zum Übersetzungswerk beibringenden Monographie im Kern folgt.3 Soldat ist jedenfalls im Hinblick auf Kurbskij in ihrer Einleitung über gefälschte Testamente und andere Fälschungen (S. 20 ff.) nicht auf dem neuesten Stand.

Überliefert ist das Testament Ivans IV. in einer Abschrift vom Anfang des 19. Jahrhunderts von einer Vorlage, die ihrerseits im April 1739 durch eine rätselhafte A. Kurbatova von einer Kopie des Originals abgeschrieben wurde. Sie versah das Testament mit einem ausführlichen Titel, einer kurzen Vorrede (S. 116).

Es handelt sich also quellenkundlich um die Abschrift von einer Abschrift, deren Original sich nicht nachweisen lässt. Inhaltlich liegt ein Konzept, keine Ausfertigung zugrunde, da die die für ein Testament rechtlich relevanten Bestandteile, Zeugen, Siegel fehlen – was auch als Ergebnis einer in der Abschrift verkürzten Fassung möglich wäre. Da das Material in sich nicht stimmig durchorganisiert ist (vgl. die Vererbung der Votčina der Vorotynskie (S. 83 ff.) wäre unserer Ansicht nach die Vorlage für die Kopie als Konzept eines Testaments zu bewerten.

Zum Text des Testamentes selbst gehört nicht nur eine Einleitung, sondern auch ein Kommentar bzw. Sachanmerkungen jeweils unter der Seite. Soldat untersucht ausführlich, wer diesen wann angefügt haben könne. Sollte der Finanzfachmann Peters d. Gr., Aleksej Kurbatov (gest. 1721), die Erläuterungen verfasst haben, so müsste der Kommentar älter sein als das Vorwort von 1739, d.h. der im 19. Jahrhundert vorhandene Text wäre über eine weitere Zwischenstufe entstanden: 1. Original (Konzept für ein Testament), 2. Abschrift mit Kommentar, 3. Abschrift von Abschrift mit Kommentar plus Vorwort, 4. Abschrift von Abschrift mit Kommentar plus Vorwort (S. 177, 179).

Ob Aleksej Kurbatov jedoch überhaupt als Herausgeber des Testaments infrage kommt oder ein anderer Namensträger bzw. eine Namensträgerin Kurbatov lässt sich nicht klären. Der Historiker Tatiščev käme wohl eher als Kommentator in Betracht, wegen eines deckungsgleichen fehlerhaften Kommentars zu einem Ortsnamen im „Sudebnik“ von 1550 und zum Testament (S. 190 ff.). Ohne dass wir hier mehr als den Hinweis erhalten, der Kommentar zu unterschiedlichen Fassungen der „Sudebniki“ aus dem Besitz Tatiščevs stamme stellenweise von dritter Hand (S. 199, Anm. 390), schließt Soldat „dass nach Tatiščevs Tod jemand den Eindruck erwecken wollte, dass Tatiščev diesen Kommentar erstellt hat. Dies geschah, um die Entstehungszeit des Manuskripts des Testamentes von 1572 zu verschleiern und durch den Kommentar Pseudo-Tatiščev zur Authentifizierung des Textes beizutragen.“ (S. 200). Die über mehrere Archive und Nachlässe verstreuten Papiere Tatiščevs hat Soldat nicht systematisch auswerten können (S. 206207). Völlig ausschließen lässt sich Tatiščev als Verfasser des Kommentars und der Vorrede also bislang nicht.4
Dass sich das in der Forschung unterschiedlich datierte Original des Testamentes selbst – die Datierungsproblematik stellt Soldat ausführlich dar – in keiner der alten Archivbeschreibungen nachweisen lässt, spricht unserer Ansicht nach nicht unbedingt für eine spätere Fälschung. Im Kommentar zur Chronik5 wird für 1553 davon gesprochen, „der Zar habe sein Testament aufsetzen lassen, denn beim Herrscher lag dieses immer fertig vor“, was bedeutet, in der laufenden Registratur wurde das Konzept eines Testamentes stets bereit gehalten und dann im Bedarfsfall ausgefertigt. Also dürfte dieses Konzept zu Lebzeiten des Zaren und ggf. noch bis in die Zeit seiner Nachfolger hinein nicht Teil des Archivs oder einer Altregistratur geworden sein; es fehlt daher in der Archivbeschreibung von 15721575. Übrigens verfuhr Vasilij III. ähnlich. Er befahl erst auf dem Sterbebett, „sein Testament zu schreiben“6, d.h. wohl nach einem Konzept mit oder ohne Änderungen auszufertigen.
Anlass zur Vermutung, dass das Testament selbst, nicht der Kommentar, eine Fälschung des beginnenden 19. Jahrhunderts sei, war grundsätzlich der Eindruck Soldats, die den eigentlichen testamentarischen Verfügungen über Güter und Sachen vorausgehende „Beichte“ beruhe an einigen Stellen auf Zitaten aus erst nach dem 16. Jahrhundert im Druck vorliegenden Publikationen, etwa einer Neuausgabe des Fürstenspiegels des Agapetus Diaconus durch Petr Mohyla von 1628 (so Ihor Ševčenko 1974 und 1978)7 und vor allem der Bibel, die von der russischen Bibelgesellschaft 1816 herausgebracht worden ist.
Dank ausführlicher Zitate (S. 324 ff.) ließ sich nachweisen, dass die Bibel von Ostroh8 mit dem Text vom Anfang des 19. Jahrhunderts wie mit dem des Testamentes als im Wesentlichen identisch betrachtet werden kann. Der Bibeldruck von 1581 wiederum beruht auf der Gennadius-Bibel, die, wie die Arbeiten Freidhofs zeigen, dem Zaren und Metropoliten mit Sicherheit zugänglich gewesen ist.9 Die Druckvorlage für die Bibel von Ostroh stammt nämlich aus der Bibliothek des Zaren.10 Die Bibelzitate entfallen also als Argument für eine Fälschung.
Nicht überzeugend scheint mir auch die Konstruktion einer Abhängigkeit des Testaments von Mohylas Agapet-Ausgabe anhand eines einzigen halben Satzes, eine These, die Soldat und  Ševčenko von Valdenberg übernommen haben. (S. 329330): „Podobaet ubo carju tri sija vešči imeti, jako bogu ne gnevatisja, i jako smertnu ne voznositisja, dolgoterpelivyj byti k sogrešajuščim.“ Bereits Valdenberg hatte die textliche Übereinstimmung entdeckt:  Er hatte vorsichtig darauf hingewiesen, der dritte Teil des Satzes könne aus Kap. 65 des Agapet stammen, der Rest gehe auf Kap. 21 zurück.11 Der erste Teil des Satzes hingegen soll, wie Ševčenko und Soldat  akzeptieren, aus Kapitel 21 des Fürstenspiegels, und zwar im Druck von  1628, stammen, also nur: „Podobaet ubo carju tri sija vešči imeti, jako bogu ne gnevatisja, i jako smertnu ne voznositisja …“ Damit fiele die Annahme in sich zusammen, Ivans IV. Testament stamme aus dem 16. Jahrhundert.

 

Welche Fakten oder Argumente lassen sich quellenkritisch gegen diese These beibringen?

Forscht man nach Alternativen zu einem Zitat aus dem Agapet von 1628, so wäre a) die Agapet-Überlieferung zu prüfen, b) kann man Vermutungen zu den vom Zaren benutzten literarischen Vorlagen anstellen oder aber es müssen c) weitere Quellen beigebracht werden, die Vorlage der Arrenga gewesen sein können.

 

Beginnen wir mit Agapet.

Ševčenko hat nur zwei ältere Fassungen des Agapet aus dem 11. Jahrhundert und aus dem 15. Jahrhundert ermitteln können, die, in der Sprache anders gefasst, als Quelle des Zitats nicht in Frage kommen. Lassen sich im 16. Jahrhundert weitere Handschriften nachweisen? Gab es weitere Fassungen des übersetzten Fürstenspiegels, an die Mohyla sich stilistisch und in der Wortwahl angelehnt hat? Er scheint nach einer meinerseits unvollständigen Durchsicht von Beständeübersichten in TODRL in Moskowien eher selten gewesen zu sein. Wie häufig war der Text im russischsprachigen Westen, im Großfürstentum Litauen, das in der lateinischen literarischen Tradition stand? War der Agapet als diplomatisches Geschenk an den Zarenhof gekommen? Im lateinischen Westen war der Fürstenspiegel beliebt. Mohylas Editionstechnik, Neuübersetzung aus dem Griechischen unter Heranziehung älterer kirchenslavischer Texte, verdiente vor weitreichenden Folgerungen im Hinblick auf das Testament Ivans IV. einer genaueren Untersuchung.

Übersehen hat Soldat einen Aufsatz zu Agapet von Patrik Henry III. Er weist auf Beziehungen  des Agapet zu Iosif Volockij oder in der dem Johannes Damascenus zugeschriebenen häufig überlieferten Erzählung Varlaam und Joasaf hin.12

 

Befassen wir uns dann mit dem Wissenshorizont des Zaren, mit Fragen also, die sich z.T. überhaupt nicht oder nur mit Hilfe russischer Handschriftensammlungen beantworten lassen.

  1. 1.Stammt der Text etwa aus Briefen der Mutter des Zaren, einer Art von Fürstenspiegel für den zum Zeitpunkt ihres Todes kleinen Jungen Ivan, die der Zar bei der Abfassung seines Testamentes eingesehen haben soll?13 
  2. 2.Was hat die „Litauerin“ Elena Glinskaja ihrem Sohn als Lektüre verordnet? Mit Sicherheit hat er den beliebtesten Lesestoff Altrusslands gekannt, den „Prolog“. Hier findet sich das relativ seltene Adjektiv dolgoterpelivyj (langmütig) im Zusammenhang mit den an einen guten Lehrer gestellten Anforderungen.14 Dolgoterpenie (Langmut) war Wortschatz des 16. Jahrhunderts.15 Der Text des Testaments kann also aus dem 16. Jahrhundert stammen. 
  3. 3.Als weitere Quelle neben dem Prolog mag man auch an den als Lektüre ebenfalls beliebten „Zlatostruj“ denken, der – auf die Textauslegung des Kirchenvaters Johannes Chrysostomus verzichtend – die anschließende, sich daraus ergebende Moral im Ganzen, gekürzt oder nur nacherzählt enthält.16  
  4. 4.Florilegien (z.B. „Pčela“, „Menandr“, „Razumenija edinostročnye“, „Svjaščennye paralleli“) mögen Agapet-Texte enthalten haben.17 
  5. 5.Kommt der „Izbornik Svjatoslava“, ebenfalls weit verbreitet, eine Art von Enzyklopädie zu allen möglichen Themen, darunter naturwissenschaftlichen, als Quelle des Zitats in Frage?18 
  6. 6.Dann müsste man ‚verdächtige‘ Texte durchsehen, etwa im Prolog den Fürstenspiegel unter dem 26. November19 oder die Lesung zum 5. Sept.: „Slovo proroka Isaija k nemilostivym knjazem i zlym sudjam“.20 
  7. 7.Der Text Ivans IV. kann auch eine Umarbeitung einer Parabel aus der sehr beliebten Erzählung Barlaam und Ioasaph gewesen sein. Sie kommt im „Prolog“ seit dem 12. Jahrhundert unter dem 23. November vor.21 Auch die gesamte Erbauungsschrift war im Hausgebrauch des alten Russland weit verbreitet. Kapitel XVI der dem Johannes Damascenus zugeschriebenen und daher von Kurbskij übersetzten „Povest o Varlaame i Ioasafe“ beginnt mit: „Slyšach bo carja někoego byvša, zělo dobrě smatrjajušča svoego carstvia. Krotok že i milostiv pod nim suščem ljudem.“22 Das ist die russische Fassung der Übersetzung einer griechischen Vorlage. Die unabhängig davon entstandene serbische Übersetzung aus dem Griechischen weicht in ihren Formulierungen davon kaum ab.23 Jedenfalls finden sich hier alle drei Elemente aus dem Testament des Zaren, doch dort umformuliert in Anlehnung an die Bibel (Ps. 77,38, russ. Zählung, und Jon. 4,2). 
  8. 8.Nicht zuletzt sind die drei Eigenschaften Gerechtigkeit, persönliche Bescheidenheit und Milde das Minimum dessen, was von einem guten Herrscher seit Beginn der russischen Geschichte erwartet wird. Sie fehlen in keinem der Fürstenspiegel oder Würdigungen von vorbildlichen Großfürsten Russlands aus der „Stepennaja kniga“.24 Nur als Sekundärtugenden wären Frömmigkeit, Belesenheit in theologischer Literatur, Askese, Förderung kirchlicher Belange, Schönheit, persönliche Tapferkeit oder groza zu nennen. Diese Tugenden sind nicht einmal auf christliche Könige beschränkt, sondern zeichnen auch Heiden aus, wie den guten König aus der eben vorgestellten Parabel aus „Varlaam i Iosaf“.  
Ein Zar, der sich als gottähnlich verstand, hatte sich auch biblisch auszudrücken, d.h. der Rückgriff auf die Heilige Schrift lag nahe, ganz gleich, ob er sich an der Erzählung über Varlaam und Ioasaf oder am üblichen Idealbild des Herrschers orientierte. Sowohl Ps. 77,38, als auch Jon. 4,2 schreiben die vom weltlichen Stellvertreter geforderte Haltung Gott zu. Umgekehrt werden Gott, beispielsweise bei Erasmus von Rotterdam im Index zu den Opera des Chryostomos, unter Ps. 7 knapp zusammengefasst, die gleichen Eigenschaften beigelegt wie dem idealen König: „Deus iudex iustus fortis et patiens.“25 Der Vergleich der Stellung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen mit Gott war keine Neuerung Josif Volockijs,26 sondern wir lesen unter dem Jahr 1175 im „Letopisec russkich carej“27 die Feststellung: „‚Estestvom bo zemnym podoben est vsjakomu čeloveku car, vlastiju že sana, jako Bog‘, vešča velikij Zlatoustec.“ In der Tat stammt die möglicherweise erste Ausformulierung des Grundsatzes der Gottähnlichkeit aus dem Umfeld des Johannes Chrysostomus, doch wohl nicht von Johannes Chryostomus selbst.28 Kaiser Arcadius reagiert auf eine Mahnung zur Milde gegenüber den rebellischen Einwohnern Antiochias durch den heiligen Macedonius (man solle den Kaiser daran erinnern, er sei nicht nur ein Kaiser, sondern auch ein Mensch)29 mit dem Verweis auf seine eigene menschliche, daher fehlbare Natur, als er Gnade vor Recht ergehen ließ.30 Wie kam es in Russland zu dieser Zuschreibung an den Kirchenvater selbst? Das Testament versteckt den Anspruch im Vergleich „jako boga“, den wir auch bei Mohyla finden, hingegen folgt dort bei Mohyla zur Herrscherwürde auf die übereinstimmende Stelle unzweideutig: „ašče bo i obrazom Božiim počten est …“
Ein weiteres Indiz für eine Fälschung des Testaments sucht Soldat bei Kurbskij. Völlig verfehlt ist die These, Ivan IV. könne im Jahre 1572 ein Zitat aus Kurbskijs 1. Brief  an ihn (nach Soldat erst 1577 entstanden; korrekt wäre: 1564!)  aus zeitlichen Gründen kaum zu seinen eigenen Zwecken umgemünzt haben, es sei denn, das Testament  wäre erst nach 1577 entstanden (S. 242). Soldat selbst hält es allerdings für wenig wahrscheinlich, dass ein beleidigter Zar Argumente seines Gegners weiter verwendet. Das Zitat aus der Karfreitagsliturgie31 kannte ein frommer Russe wohl so gut wie selbst ein mäßiger deutscher Kirchgänger von heute den Text der Weihnachtsgeschichte. Es war offensichtlich sprichwörtlich geworden.32
Schließlich scheint man mit Blick auf die Arrengen byzantinischer, speziell mönchischer, Testamente die These Soldats hinterfragen zu müssen, dass die am Anfang des Testamentes stehende literarische Beichte des Zaren als literarisches Genre typisch für das 18. Jahrhundert sei; das Testament könne daher kein authentischer Text des Mittelalters sein (S. 290), es habe nämlich in Russland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert hinein ein festes, zwingendes, im kühlen Kanzleistil gefasstes Testamentsformular gegeben, das allein Rechtssicherheit garantierte (S. 228). Dort kennt man nämlich ähnlich Persönliches vor den Verfügungen über die Hinterlassenschaft.33

Passt das Testament durch die Übernahme byzantinischer Muster nicht eher zu den nachweisbaren Bemühungen Ivan Groznyjs, sich als Kaiser zu profilieren, imperialen Habitus zu pflegen oder zu seinen Mönch-Spielen? Spricht die ungewöhnliche Form dann nicht gerade für die Authentizität des Testamentstextes?    

 

Fassen wir zusammen, so scheint es uns Soldat nicht überzeugend gelungen zu sein, den Text des Testamentes selbst als spätere Fälschung zu identifizieren.

Es ist immer gefährlich, historische Forschung mit einer festen These zu beginnen, hier derjenigen Ševčenkos von einer Abhängigkeit des Testamentes von Mohyla, und dieser These die Fakten unterzuordnen, statt bis zum Ende der Quellenstudien für das abschließende Urteil offen zu bleiben. Man hätte aus der Keenan-Debatte auch dies lernen können.    

Anders verhält es sich mit dem jüngeren Rahmen um das Testament. Immerhin kann man hier den Hinweis auf Kurbskij als Indiz für eine Fälschung deuten. Im Kommentar wird Kurbskijs „Istorija“ erwähnt, die zum wahrscheinlichsten Zeitpunkt der Abfassung des Testamentes – 1572 – noch nicht abgeschlossen war, aber erst seit den 70-er Jahren des 17. Jahrhunderts in Moskowien bekannt war und die Malinovskij 1815 im Auftrage von Graf Rumjancev in seinem Archiv des Auswärtigen hat abschreiben lassen (S. 155156). Laut Vorrede zum Testament müssen 1739 die Texte des Kommentars bereits vorgelegen haben (S. 116). Wenn Malinovskij und Rumjancev Einfluss auf den Text genommen haben, dann gründlich und mit dem gesamten Rahmen (S. 210, 441 ff., 436, 465).

Ist also das Testament selbst echt, während Rahmen, Vorwort und Kommentar eine Fälschung sind?

Ein interessantes Buch – wie dieses – wirft Fragen auf, auch literaturwissenschaftliche, auf die wir hier nicht eingegangen sind.

 

 

 

Quellen:

Auszüge aus der Gennadius-Bibel (1499). Herausgegeben von Gerd Freidhof:

Biblija, sireč Kniga vetchogo i Novogo Zaveta [Bibel von Ostroh].

        http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ostrog_Bible?uselang=de (07.08.2014).

Carstvennaja kniga. Moskva 1965. = Polnoe sobranie russkich letopisej, t. 13.

Johannes Chrysostomus Opera. Hrsg. von Erasmus v. Rotterdam. Basel 1558, Bd. 15. Auch unter: http://www.unifr.ch/bkv/awerk.htm (07.08.2014).

Kniga stepennaja carskogo rodoslovija. St. Petersburg 1908, 1913. = Polnoe Sobranie Russkich Letopisej, Bd. 21, 12.

Kurbskij, Andrej Michajlovič Novyj Margarit. Historisch-kritische Ausgabe auf der Grundlage der Wolfenbütteler Handschrift. Hrsg. von Inge Auerbach. Gießen 19762005. = Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slawen, Editionen 4, Bd. 14.

Kurbskij, Andrej Michajlovič Übersetzungen des Johannes Damascenus, in: GIM, Sobranie Chludova, Nr. 60.

Lebedeva, I. N. Povest o Varlaame i Ioasafe. Pamjatnik drevnerusskoj perevodnoj literatury XIXII vv. Moskva 1985.

Letopisec Pereslavlja suzdalskogo (Letopisec russkich carej). Moskau 1995. = Polnoe Sobranie Russkich Letopisej, Bd. 41.

Slovar russkogo jazyka XIXVII vv. Bd. 4. Moskva 1977.

Theodoret von Cyrus Historia ecclesiastica. https://www.unifr.ch/bkv/kapitel2086.htm (07.08.2014).

 

 

 

Literatur:

Auerbach, Inge Andrej Michajlovič Kurbskij. Leben in osteuropäischen Adelsgesellschaften des 16. Jahrhunderts München 1985.

Auerbach, Inge Nomina abstracta im Russischen des 16. Jahrhunderts. München 1973. = Slavistische Beiträge, Bd. 68.

Baranov, K. V. Ob obščej žalovannoj gramote Vasilija Temnogo rostovskim bojaram, in: Soobščenija Rostovskogo muzeja 9 (1998), S. 3154.

Budovnic, I. U. Russkaja publicistika XVI v., Moskau, Leningrad 1947.

Fomina, M. S. Drevnejšie spiski sbornika Zlatostruj v rannej slavjanskoj pismennoisti (XIXII vv.). K voprosu o redakcii „Zlatostruja“ A. F. Byčkova, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 47 (1993), S. 3453.

Freidhof, Gerd Vergleichende sprachliche Studien zur Gennadius-Bibel (1499) und Ostroger Bibel (1580/81): Die Bücher Paralipomenon, Esra, Tobias, Sapientia und Makkabäer, Königstein/Ts. 1972.

Gerd, L. A. Vizantijskie zaveščanjia: funkcija preambuly, in: Vspomogatelnye istoričeskie discipliny 25 (1994), S. 24256.

Granstrem, E. Ė. Ioann Zlatoust v drevnej russkoj i južnoslavjanskoj pismennosti (XIXIV vv.), in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 29 (1974), S. 186193.

Granstrem, E. Ė. Ioann Zlatoust v drevnej russkoj i južnoslavjanskoj pismennosti (XIXV vv.), in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 35 (1980), S. 345375.

Kalugin, V. V. Andrej Kurbskij i Ivan Groznyj. (Teoretičeskie vzgljady i literaturnaja technika drevnerusskogo pisatelja). Moskau 1998. = Studia philologica.

Lebedeva, I. V. K istorii drevnerusskogo prologa: Povest o Varlaame i Ioasafe v sostave Prologa, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 37 (1983), S. 3953.

Levočkin, I. V. Sinodalyj spisok Izbornika Svjatoslava, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 37 (1983), S. 150156.

Patrik Henry III The Ekthesis of Agapetus Diaconus, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 8 (1967), 281308.

Romodanovskaja, V. A. Gennadievskaja biblija: Zadači i principy izdanija, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 59 (2008), S. 245263.

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Ševčenko, I. Ljubomudrejšij kyr Agapit Diakon. On a Kiev Edition of a Byzantine Mirror of Princes, with a Facsimile Reproduction. Cambridge, Mass. 1974. =  Recenzija 5,1, Supplement.

Skrynnikov, R. G. Duchovnoe zaveščanie carja Ivana Groznogo, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 21 (1965), S. 309318.

Stökl, Günther Testament und Siegel Ivans IV. Opladen 1972.

Tvorogov, O. V. Opisanie sostava Prostrannoj redakcii Prologa po spiskam XIVXV vekov, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 62 (2014), S. 269342.

Valdenberg, V. Nastavlenie pisatelja VI v. Agapita v russkoj pismennosti, in: Vizantijskij vremennik 29 (1923), S. 2734 ff.

Zarubin, N. N. Biblioteka Ivana Groznogo. Rekonstrukcija i bibliografičeskoe opisanie. Leningrad 1972.

Zitierweise: Inge Auerbach über: Cornelia Soldat: Das Testament Ivans des Schrecklichen von 1572 – eine kritische Aufklärung. A Textual Analysis of the 1572 Will of Ivan the Terrible. With a foreword by Russell E. Martin. Lewiston, Queenstown, Lampeter: The Edwin Mellen Press, 2013. 510 S. ISBN: 978-0-7734-4553-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Auerbach_Testament_Ivans_des_Schrecklichen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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1Stökl Testament und Siegel, S. 14, Anm. 18.

2Auerbach Andrej Michajlovič Kurbskij.

3Kurbskij Novyj Margarit; Kalugin Andrej Kurbskij i Ivan Grozny, S. 30 ff.

4So Baranov Ob obščej žalovannoj gramote Vasilija Temnogo rostovskim bojaram, S. 34.

5Carstvennaja kniga, S. 529.

6Kniga stepennaja carskogo rodoslovija, S. 612.

7Ševčenko Ljubomudrejšij kyr Agapit Diakon, S. 2930; Ševčenko Agapetus East and West.

8Biblija, sireč’ Kniga vetchogo i Novogo Zaveta.

9Freidhof Vergleichende sprachliche Studien; Freidhof Auszüge aus der Gennadius-Bibel (1499), Nr. 1: Der Psalter und Nr. 2: Die Briefe an die Römer, Korinther, Galather und Epheser. Zum Stand der Forschung über die Gennadius-Bibel und russische Bibeln allgemein, ohne auf die Bibel von 1816 einzugehen: Romodanovskaja Gennadievskaja biblija.

10Zarubin Biblioteka Ivana Groznogo, S. 32.

11Valdenberg Nastavlenie pisatelja VI v. Agapita v russkoj pismennosti, S. 32.

12Patrik Henry III The Ekthesis of Agapetus Diaconus, S. 294.

13So schon Skrynnikov Duchovnoe zaveščanie carja Ivana Groznogo, S. 314. Ivan IV. hat die Briefe laut Archivbeschreibung am 14. August 1566 angefordert.

14Slovar russkogo jazyka XIXVII vv., Bd. 4, S. 300. Identisch mit: „Ioann Zlatoust, eže učitelem ne rugatisja …“ in der kurzen Reaktion, dort f. 46 v49; vgl. Fomina Drevnejšie spiski sbornika Zlatostruj, S. 47.

15Auerbach, Nomina abstracta im Russischen des 16. Jahrhunderts, S. 255.

16Dazu: Granstrem Ioann Zlatoust v drevnej russkoj i južnoslavjanskoj pismennosti, S. 191, Fo­mi­na Drevnejšie spiski sbornika Zlatostruj, S. 34 ff.

17So Patrik Henry III The Ekthesis of Agapetus Diaconus, S. 292 ff.

18Levočkin Sinodalyj spisok Izbornika Svjatoslava, S. 155156.

19„Nakazan’e k vladějuščscim: Postavil li tja cesar v kyi ljubo san ili sud’eju na zemli svoei …“ Vgl. Tvorogov Opisanie sostava Prostrannoj redakcii Prologa, S. 301. Zu demselben Text auch: Granstrem Ioann Zlatoust v drevnej russkoj i južnoslavjanskoj pismennosti, S. 362. Es handelt sich wohl nicht um ein Werk des Johannes Chrysostomus. Möglich wäre auch Nr. 90: O Foce o cari nečestivem (in BKV bei Chrysostomus nicht nachweisbar).  

20Tvorogov Opisanie sostava Prostrannoj redakcii Prologa, S. 274.

21Lebedeva Povest´o Varlaame i Ioasafe, S. 72. (Für die Überlassung einer Kopie danke ich dem Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Regensburg). Lebedeva K istorii drevnerusskogo prologa, S. 43, 44, 5152.

22Kurbskij korrigiert diesen Text nach einem lateinischen Druck der 70er Jahre, vermutlich der zweisprachig griechisch-lateinischen Ausgabe der Officina Henricpetrina Basel 1775 mit einem Vorwort des Marcus Hopper. Heinrich Petri hat seit 1535 lateinische Damascenus-Editionen herausgebracht. Anders: Lebedeva Povest o Varlaame i Ioasafe, S. 106, 171. Kurbskij Übersetzungen des Johannes Damascenus, in: GIM, Sobranie Chludova 60, f. 114, dort smotręę statt smatrjajušča und podobnym statt pod nim.

23Vgl. Lebedeva Povest o Varlaame i Ioasafe, S. 73.

24Vladimir d. Hl.: pravda, dolgoterpenie, ljubov, smirenie, čelovekoljubie, milost, Kniga stepennaja carskogo rodoslovij, S. 98, auch S. 99;  Jaropolk Izjaslavič: tich i krotok, smiren i ljuboven, milostiv i darovit i ne otmstitelen k sogrešajuščim emu …, S. 177, vgl weiter: S. 194, 221, 246, 255, 267, 268, 279280, 328, ebenso Bd. 2, S. 559 (unter Bezug auf Demokrit), S. 562, 563, 586, 610611.

25So der Index zu Johannes Chrysostomus Opera. Hrsg. von Erasmus v. Rotterdam, zu Ps. 7 mit dem Hinweis auf Bd. 3, S. 191.  

26So Budovnic Russkaja publicistika XVI v., S.  98 nach dessen „Prosvetitel’“.

27Die Handschrift stammt, nach den Wasserzeichen zu urteilen, aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Vgl. Letopisec Pereslavlja suzdalskogo, S. VI.

28Die Durchsicht des Index zu den Werken des Johannes Chrysostomos in der Bibliothek der Kirchenväter erbrachte kein positives Ergebnis (vgl. Internet).

29Theodoret von Cyrus Historia ecclesiastica, Kap. XIX.

30Johannes Chryostomus, Homilien über die Bildsäulen (de statuis), 21, 3 (http://www.unifr.ch/ bkv/kapitel3227.htm) (07.08.2014).

31Vgl. Kurbskij Novyj Margarit, Lieferung 17, S. 163164.

32Zwei Mal auf einer Seite kommt die Redewendung im Zusammenhang mit der Ermordung des Andrej Georgievič Bogoljubskij vor. Vgl. Kniga stepennaja carskogo rodoslovija, Bd. 1, S. 241.

33Gerd Vizantijskie zaveščanjia, S. 240 ff.