Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 650-654

Verfasst von: Inge Auerbach

 

Bayern und Russland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen. Hrsg. von Alois Schmid. München: Beck, 2012. XIV, 453 S., Abb. = Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 42. ISBN: 978-3-406-10725-2.

Was ist Bayern? Was ist Russland? Vor allem die erste Frage stellt sich sofort, wenn der Band mit einer Untersuchung von Winfried Müller einsetzt über die Via regia, die von Frankfurt/Main herkommend, über Fulda, Eisenach, Gotha, Erfurt nach Leipzig und von dort weiter nach Osten verlief, also weder das heutige Land Bayern noch das alte Herzogtum berührt, sondern nur durch eine Abzweigung selbst mit der alten Reichsstadt Nürnberg verbunden war. Des Rätsels Lösung findet sich erst am Schluss des Buches, in der Zusammenfassung durch den Herausgeber: DieInternationalisierungsstrategie der bayrischen Staatsregierung, die speziell durch die Landesgeschichte, deren auf Kleinräumigkeit, Mikrostrukturen ausgerichtete Forschung, kaum zu erfüllen ist.

Der Band enthält also um des zu schaffenden internationalen Netzwerkes willen Beiträge, die mit Blick auf Bayern, definiert als das heutige Land oder historisch als die bayrischen und fränkischen Reichskreise, überraschen: Untersuchungen über Russland auf den Reichstagen, die zunächst ja nicht einmal fest auf heutigem bayrischen Boden tagten (Helmut Neuhaus: Russische Gesandtschaften auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts, S. 197 ff.; Michail A. Bojcov: Die Erlebnisse der Vertreter Ivans des Schrecklichen auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahre 1576 und ihr Nachwirken, S. 227 ff.), und über Russlandberichte, die im kaiserlichen Dienst entstanden sind (Oleg F. Kudrjavcev: Die heilige Rus. Der russische Traum des Doktor Johann Fabri, S. 87 ff., wobei dieser mit Bayern überhaupt nichts zu tun hatte [vgl. S. 90 ff.]; Margit Ksoll-Marcon: Die Reise des Johann Georg Korb nach Russland in den Jahren 1698 und 1699, S. 349 ff., dessen einzige Verbindung zu Bayern war, dass ein Teil seines Nachlasses heute in einem bayrischen Archiv liegt [Staatsarchiv Amberg], weil Korb später in Pfalz-Sulzbacher Dienste getreten war. Über seine Russlandreise in kaiserlichem Auftrag der Jahre 1698/99 hat er in seinem Tagebuch, mit kaiserlicher Lizenz 1700 oder 1701 gedruckt, ausführlicher berichtet. Einzelne Briefe ergänzen das Tagebuch, das 1968 erneut veröffentlicht wurde. Auch zeitlich greift ein Beitrag über Lomonosov und Avenarius (Andrej Doronin, S. 125 ff.) über den im Titel gesetzten Rahmen hinaus, und nicht recht überzeugt die Bedeutung Bayerns für das ukrainische und, daraus resultierend, das russische Bildungswesen kurz vor Peter, festzumachen nur an in der Ukraine noch heute erhaltenen Werken des kurfürstlichen Hofpredigers Jeremias Drexel (1598–1651) sowie des Ingolstädter Theologieprofessors Petrus Canisius (1521–1597), während zwei andere Jesuiten, Martin Becanus (1563–1624) und Maximilianus Sandaeus (1578–1656), tätig in Würzburg und Mainz, nur mit Bedenken alsBayernreklamiert werden können. Auch deren Werke lassen sich dort nachweisen.

Den harten Kern der Beiträge bieten die Vorträge über die Russlandkenntnisse am bayrischen Hof und die Handelsbeziehungen freier Reichsstädte, die auf dem Territorium des heutigen Landes Bayern liegen. Alois Schmid (S. 39 ff.) weist nach, dass man in München und im Herzogtum Bayern des 14. Jahrhunderts unter Kaiser Ludwig IV. keine Vorstellung von, zumindest aber kein Interesse an Russland hatte. Dasselbe Phänomen gilt für Hessen noch im 16. Jahrhundert (vgl. Inge Auerbach: Macht und Glauben. Grundprinzipien der Außenpolitik Philipps des Großmütigen am Beispiel Ostmitteleuropas bis zum Frieden von Kaaden, in: Reformation und Landesherrschaft. Hrsg. von Inge Auerbach. Marburg/Lahn 2005, S. 231 ff. = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 24/9) und dürfte sich in den anderen Territorien des Heiligen Römischen Reiches nicht wesentlich anders dargestellt haben. Maximilian Lanzinner befasst sich mit den politischen Hintergründen, die zur Verbreitung von handschriftlichen oder vor allem in Nürnberg gedruckten Zeitungen in den Korrespondenzen deutscher Fürsten untereinander geführt haben (S. 165 ff.). Sie beruhen vor allem auf livländischer oder polnischer Propaganda, die ein Eingreifen des Reiches in deren Moskowiterkriege bewirken sollte. Lanzinners Fazit:Freilich, eine aktive Mitwirkung an der Nordeuropa- und Moskaupolitik, ob im Verbund mit den Reichsständen oder mit dem Kaiser, zog der bayerische Hof nach wie vor nicht in Erwägung(S. 181). Immerhin, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschien Russland in der Gestalt Moskowiens im Wissenshorizont von Fürsten und Räten, vor allem dank Sigismund von Herberstein und der im Gefolge des Livländischen Krieges entstandenen Gräuelpublizistik. Für Hessen liegt eine Untersuchung vor, die nach den moralischen Voraussetzungen und den unterschiedlichen juristischen Rahmenbedingungen in Moskau und in Deutschland fragt, auf denen die gruselige Wirkung dieser Flugschriftenliteratur im deutschen Sprachraum beruht (Inge Auerbach: Der hessische Löwe und der russische Bär. Die Beziehungen zwischen Hessen-Kassel und Russland. 16. bis 20. Jahrhundert. Marburg/Lahn 2003. = Schriften des hessischen Staatsarchivs, 14). Lanzinners Ansatz war ein anderer, ein außenpolitischer.

Michail A. Bojcov ergänzt das, ebenfalls auf der Ebene des Reiches. Er geht auf der Basis russischer Quellenund zwar zum einen einer inoffiziell gebliebenen und zum anderen der offiziellen Fassung des Abschlussberichtes der Gesandtschaft an den Zaren (wobei sich erstere in der Nationalbibliothek in St. Petersburg befindet) – auf  Kulturunterschiede zwischen Deutschland und Russland ein, die den Berichterstattern 1576 aufgefallen sind. Vermittelnd und dolmetschend waren übrigens zwei Dorpater Gutsherren, noch immer Katholiken, an der Regensburger Gesandtschaft beteiligt. Die andere Seite, den Eindruck, den russische Gesandtschaften auf kaiserlichen oder Reichstagen seit 1489 gemacht haben, stellt Helmut Neuhaus vor (S. 197 ff.). Kern der Verhandlungen war die Livlandfrage, wobei aus süddeutscher Sicht das Baltikum abgelegen war und man sich zu einer aktiven Unterstützung der Livländer durch das Reich nicht entschließen konnte. In den Regierungsgeschäften Karls V. tauchen gelegentlich Handelsprobleme auf, daneben wird über eine mögliche Rolle Moskowiens als Bündnispartner gegen die Türken nachgedacht, und es gab natürlich seit der Annahme des Zarentitels die Titulaturfrage.

Wem aber nützen vergleichende Untersuchungen, die nur Fakten ohne tiefergehende Analyse nebeneinanderstellen, ohne die Relevanz der Vorgänge in dem einen Land für das jeweils andere zu untersuchen (Vasilij Ivanov mit seinem Vergleich der Konflikte zwischen Staat und Kirche in Deutschland unter Ludwig dem Bayern und in Russland an der Wende zum 16. Jh., S. 75 ff., Peter Claus Hartmann: Pietas Bavarica – Pietas Russica, S. 381 ff.Die Altgläubigen scheinen für Hartmann kein Problem zu sein, sie werden nur in einem Nebensatz erwähnt)?

Die besten Beiträge des Bandes befassen sich mit jesuitischen Versuchen, in Russland zu missionieren, und mit Handelsbeziehungen. Die katholische Mission bzw. die Kirchenunion ist in Moskowien – anders als in Litauen – stets an dem bereits aus Griechenland überkommenen Überlegenheitsgefühl der Ostkirche gegenüber Rom gescheitert, doch hat ein Bayer, der Jesuit Heinrich Scherer, in der Tradition der Staatsgeographie und Kameralistik des Barock stehend, in seinem Atlas Novus von 1703 (2. Aufl. 1737) u. a. eine vergleichende Landeskunde für die ganze Welt geliefert, die auch Russland einschließt. Es geht dort um den Rang Russlands innerhalb der europäischen Staatenwelt, den Charakter des russischen Menschen und um die russische Kirche, deren Hierarchie und Verwaltungsstrukturen. Scherer hat in ihrem Informationsgehalt über die bekannten gedruckten Landeskunden hinausgehende polnische und kaiserliche diplomatische Korrespondenzen ausgewertet, und verdient daher unsere Aufmerksamkeit (R. Becker, S. 259 ff.). Der Missionsbericht des Böhmen Georg David über die Vorgänge in Moskau im Jahr 1689, den Machtkampf zwischen Peter und seiner Schwester Sofja, erreichte auch Bayern in Gestalt der Oberdeutschen Provinz der Jesuiten. Verfasst hat ihn David, kurz nachdem er zusammen mit seinem ebenfalls böhmischen Kollegen Tobias Tichavsky plötzlich aus Moskau ausgewiesen worden war. Hier stehen wir vor dem Ende eines erneuten Versuches jesuitischer Mission in Russland, diesmal angeregt von Kaiser Leopold I. Behandelt wird hier nur der Wissenshorizont der bayrischen Jesuiten. Die beiden Missionare selbst haben mit Bayern nichts zu tun. David hat daneben eine 1690 gedruckte Landesbeschreibung und eine russische Grammatik verfasst, deren Wirkung auf Bayern nicht untersucht wird (Hannelore Putz, S. 331 ff.).

Russlandist für die Untersuchungen eine wechselnde Größe: Mit den Handelsbeziehungen von Regensburger Kaufleuten (Ruzarii) nach Kiev (12./13. Jahrhundert) befasst sich der gelehrte Beitrag von A. V. Nazarenko (S. 15 ff.). Es gab offensichtlich in Kiev eine eigene Kaufmannssiedlung mit lateinischen Kaufmannskirchen und dem St. Marien­kloster, das zumindest zeitweilig in schottischer Hand gewesen sein muss. Gehandelt wurden Pelze undzumindest in der Karolingerzeitauch Sklaven, die durch Juden und andere aufgekauft und auf den Sklavenmarkt nach Venedig abtransportiert wurden.

Das Russland der Zeit der Teilfürstentümer kommt auf der Tagung nicht vor. Eventuell hatten diese, an der Westgrenze gelegen, ohne noch unerschlossenes waldreiches Hinterland zum Zobelfang, keine größere Bedeutung für den Pelzhandel, anders als Novgorod mit dem zugehörigen Norden und Moskau mit Sibirien. Oder wir wissen mangels russischer Quellen einfach zu wenig über deren Geschichte und Handelsbeziehungen. H. Wüst stellt die Handels- und Kulturbeziehungen süddeutscher Reichsstädte im 16. und 17. Jahrhundert vor, die vor dem 18. Jahrhundert ausgesprochen dürftig waren, auch wenn nach Russland verschenktes oder verhandeltes Silber aus Nürnberg und Augsburg die Schatzgewölbe der Zaren und heute der russischen Museen (Rüstkammer des Kreml in Moskau) anfüllt. Süddeutsche Kaufleute scheinen keinen direkten Kontakt nach Russland gepflegt, sondern Pelze über einen Zwischenhandel auf Stapelplätzen wie Prag oder Krakau bezogen zu haben. Sie pflegten zeitweilig auch den Livlandhandel.

Die Ostsee und Archangelsk spielten nach der Schließung des Novgoroder Hansekontors die entscheidende Rolle im Russlandhandel: Süddeutsche Kaufleute bezogen daher aus Lübeck, Hamburg oder Antwerpen russische Waren, die sie auf dem Land- oder Wasserweg nach Süden transportierten. Indirekte Nachrichten über Russland kamen auf dem gleichen Weg in die süddeutschen Reichsstädte, sieht man ab von den russischen Kontakten zum Reichstag in Regensburg. Auch die Post- und Reisewege nach Russland ließen Süddeutschland links liegen, die ersten Postrouten verbanden seit den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts Moskau und Ostpreußen über Riga oder alternativ Wilna, während eine weitere Route von Breslau über Warschau nach Moskau keine große Bedeutung gehabt zu haben scheint. Auf den Ostseerouten erreichten Russland auch westliche Zeitungen, und es lässt sich statistisch belegen, dass hier die andere Seite, Süddeutschland, keine Rolle spielte. Nicht zufällig reiste Peter selbst durch Norddeutschland (1697/98, 1716/17). (Hermann Beyer-Thoma, S. 399 ff.).

So darf man abschließend feststellen, dass das Thema der dem Sammelband zugrunde liegenden Tagung, die Beschränkung auf die Frühzeit und Anfänge der süddeutsch-russischen Kontakte, unglücklich gewählt war, auch wenn daraus viel gemacht wurde.

Zu ergänzen wären Kleinigkeiten: Unter denMoscoviticain Ficklers Inventar von 1598 werden Münzen, wahrscheinlich russische Münzen (so Helmut Zedelmaier: Moscovitica in der herzoglichen Kunstkammer zu München, S. 293) erwähnt. Wenn das zutrifft, dürfte es sich um die im Deutschen sogenanntenTropfkopeken, aus Silberdrahtstücken geschlagene kleine Münzen unregelmäßiger Form, gehandelt haben und sicher nicht um grivenki (Rubel), gegossene Silberstangen mit Stempel.

Die vier spanischen Stuten vor der kaiserlichen Kutsche, mit der die Leiter der russischen Gesandtschaft von 1576 ihren Einzug nach Regensburg hielten, waren im russischen Gesandtschaftsbericht mit Recht einer Erwähnung wert (Bojcov, S. 245). Sie stellten ein Rangmerkmal dar, denn sie waren im Handel nicht zu erhalten, sondern wurden von den Habsburgern nur an Könige oder befreundete Fürsten verschenkt. Der Export spanischer Pferde war nämlich Stein des Anstoßes unter den spanischen (kastilischen) Cortes gewesen, als sie die Punkte einer Wahlkapitulation für Karl V. 1515/16 zusammenstellten (Inge Auerbach: Wer regiert? Der Hund den Menschen oder der Mensch den Hund? Beiträge zur Sozialgeschichte der Jagdhunde. 16. bis 19. Jahrhundert. Lauf a. d. Pegnitz 2009. = PAC-Korrespondenz. Zeitschrift des Politisch-Akademischen Clubs e.V. N.F. 22 (82), S. 27, Anm. 50).

Zu hinterfragen wäre, ob Johann Fabris Absicht, die Reformation mit dem Hinweis auf die Glaubensreinheit der Russen zu bekämpfen, tatsächlich Anlass für dessen Epistola de Moscoviticarum juxta mare glycide religione war (Oleg F. Kudrjavcev, S. 119 ff.). 1525 verfasst, erschien sie 1526 in Basel, also zu einer Zeit, als deutsche Fürsten noch keine Landeskirchen begründet hatten, die Glaubensspaltung durchaus noch nicht endgültig schien. Fabri lebte damals in Wien, hatte sich auf Disputationen mit Protestanten, vor allem mit Zwingli, eingelassen und 1524 ein Traktat Malleus in haeresin Lutheranam veröffentlicht. Selbst ein Gegner des Ablasshandels und zeitweilig in Basel tätig gewesen, wurde Fabri durch Erasmus von Rotterdam beeinflusst, der den Anstoß aus Venedig aufgenommen hatte, orthodoxe Kirchenväter verstärkt in das westliche theologische Denken einzubeziehen. Seine Gesamtausgabe der Werke des Johannes Chrysostomos in lateinischer Sprache war wohl in Arbeit. Fabri hat möglicherweise nicht mehr beabsichtigt, als der theologischen Theorie die religiöse Praxis derjenigen Orthodoxen gegenüberzustellen, die sich selbst als die Vertreter der reinen Lehre sahen. Wir würden hier auch Wirkungen des Basler Humanismus um Erasmus von Rotterdam und Johann Froben vermuten.

Inge Auerbach, Marburg/Lahn

Zitierweise: Inge Auerbach über: Bayern und Russland in vormoderner Zeit. Annäherungen bis in die Zeit Peters des Großen. Hrsg. von Alois Schmid. München: Beck, 2012. XIV, 453 S., Abb. = Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 42. ISBN: 978-3-406-10725-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Auerbach_Schmid_Bayern_und_Russland_in_vormoderner_Zeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Inge Auerbach. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.