Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 265-267

Verfasst von: Inge Auerbach

 

Aleksandr I. Filjuškin: Andrej Kurbskij. Moskva: Molodaja Gvardija, 2008. 299 S., Abb. = Žizn’ zamečatel’nych ljudej, Serija biografii, 1337 = 1137. ISBN: 978-5-235-03138-8.

Die Reihe der Biographien großer Männer der russischen Geschichte und Literatur erwartet von ihren Autoren eine gut lesbare wissenschaftliche Darstellung des Stoffes auch für den interessierten Laien. Und dies haben wir hier vor uns. Der Band führt in die Problematik des je nach politischer Einstellung und Konjunktur ständig schwankenden Bildes des Helden ein, was schon im 17. Jahrhundert durch die entsprechende Kürzung der Originaltexte Kurbskijs beginnt und heute im Internet endet. Vor uns steht entweder ein Vaterlandsverräter oder ein Freiheitskämpfer, ein rückwärts auf die Zeit der Teilfürstentümer orientierter Fürst, damit seit der Rezeption Hegels in Russland ein Vertreter des historischen Rückschritts, oder aber ein Publizist, der seiner Zeit so weit voraus ist, dass man in Moskowien erst ein Jahrhundert später beginnt, die Bedeutung seiner hinterlassenen Schriften zu erkennen, usw. Filjuškin macht seine Leser mit der einschlägigen Literatur bekannt, meist Schriften, die als relativ unbedeutend, heute als vergessen gelten können. Im allgemeinen Bewusstsein geblieben ist allein, dass Kurbskij als erster gewagt hat, gegen Machtmissbrauch der Staatsspitze öffentlich zu protestieren, und in diese Rolle kann man auch heute wieder schlüpfen.

Filjuškins Anliegen ist es, seine Leser mit dem wirklichen Kurbskij bekannt zu machen. Seine Biographie beginnt mit der Familie und Kindheit Kurbskijs und dessen militärischer Laufbahn im Kampf gegen die Tataren im Süden Russlands und um Kazan. Dem schließt sich eine Untersuchungen der intellektuellen bzw. religiösen Entwicklung während seiner Zeit als Statthalter von Livland im Dialog mit einem deutschen Theologen und dem Pskover Höhlenkloster an. Bereits vor der Flucht und dem berühmten Absagebrief an Ivan Groznyj von 1564 hatte er massive Vorbehalte gegenüber der Innenpolitik seines Zaren entwickelt und diese den Pskover Mönchen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Vor der Frage stehend, ob es sich bei Kurbskij eher um ein Opfer monarchischer Willkür oder um einen Vaterlandsverräter handelt, neigt Filjuškin der patriotisch-russischen Ansicht zu. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass der Fürst sich durch eine zornige Äußerung des Zaren in seinem Leben bedroht gefühlt habe, doch hätten durchaus nicht alle Flüchtlinge nach Litauen später gegen die alte Heimat zu den Waffen gegriffen (Wer ist hier gemeint außer Bauern, sozial zu Kosaken abgesunkenen Kleinstadligen?), wohl aber Kurbskij. Er habe zweifellos gegen das Wertesystem innerhalb der moskowitischen Gesellschaft verstoßen, die Treue gebrochen und Verrat geübt und sich darüber hinaus in die Rolle des Vertriebenen hineinstilisiert, er, der sich völlig eigenmächtig zur Flucht entschlossen habe. Er sei Asylant aus eigenem Antrieb geworden (S.133 ff). Dem folgt ein Kapitel über Kurbskij im Großfürstentum Litauen „Ein neuer König, der alte Gott“ über seine Dienste für den Großfürsten von Litauen und seinen vergeblichen Versuch, unter den litauischen Magnaten oder bei Hofe eine bedeutende Rolle zu spielen, und über seine Propaganda- und Übersetzungstätigkeit für die orthodoxe Kirche. Unterbrochen von einer Untersuchung der Argumente beider Seiten in seinem Streit mit dem Zaren auf der Basis des Briefwechsels mit Ivan IV. und von Kurbskijs „Istorija o velikom knjaze Moskovskom“, folgt dann eine Beschreibung von Kurbskijs Leben als Grundbesitzer und eine Schilderung seines Eheleben mit seinen beiden litauischen Frauen. Das Buch beschließt als Beilage eine interpretierende Übersetzung der drei Sendschreiben Kurbskijs an den Zaren und eine Tabelle mit den Lebensdaten des Fürsten.

Kurbskij war in Moskowien kein Mann gewesen, dessen Ansichten die politischen oder kirchlichen Entscheidungsprozesse geprägt hätten. Er war, modern ausgedrückt, überwiegend tüchtiger General in der zweiten Reihe gewesen. Selbst seine Verwaltungserfahrung in der Provinz dürfte sich in engen Grenzen bewegt haben. Er kannte sicher einen Teil der Großen am Hofe Ivans IV. persönlich. Hier mag seine Einschätzung des Charakters der Verhandlungsführer auf moskowitischer Seite litauischen Diplomaten von Nutzen gewesen sein. Das war aber auch alles, was er außer seiner Propagandatätigkeit gegen den russischen Zaren für die litauische Seite zu bieten hatte. Im persönlichen Umgang, urteilt man nach seinen Briefen, dürfte er eher hochfahrend, rechthaberisch und wenig liebenswürdig gewesen sein – und dies machte unter den litauischen Magnaten keine Freunde. Das alles erfährt der russische Leser bei Fi­ljuš­kin. Aber er bleibt bei ihm Moskowiter, dessen Weltanschauung und Deutung der Vorgänge in der alten Heimat sich höchstens aufgrund der Studien von Kirchenväterschriften weiterentwickeln. Im Anschluss an Kalugin interpretiert Filjuškin den zwiefachen Ivan IV., den guten Zaren, der sich später in einen Tyrannen verwandelt hat, als die Verkörperung des Antichrist, wie er bei Johannes Damascenus zu finden sei. (Einen Teil von dessen Werken, die Theologie, Teile der Quelle des Wissens, die Dialektik u. a. hat Kurbskij in den siebziger Jahren ins Russisch- oder Westrussisch-Kirchenslavische übersetzt oder übersetzen lassen). Was hier völlig verloren geht, ist der Einfluss westlicher, ständestaatlicher politischer Theoreme auf Kurbskijs Kritik an der Autokratie.

Kurbskij wird zum „Räuberfürsten“ (knjaz-razbojnik) in Wolhynien, weil er dort in zahllose Prozesse und Gewalttätigkeiten gegenüber den Nachbarn verwickelt ist.

Man kann Biographie als Aneinandereihung von Ereignissen im Leben seines Helden schreiben. Vertan wurde hier, beim Mann zweier Welten, die Chance, dem russischen Leser Einblick in Grundstrukturen westlicher frühneuzeitlicher staatlicher Verfassung zu geben und in die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Gesellschaft des Moskowitischen Russland funktionierte.

„Fehdegesellschaft“, bei fehlendem Gewaltmonopol des Monarchen, dennoch die Vorstufe zum modernen Rechtsstaat, kombiniert vor der Stiftung des Friedens zwischen den streitenden Parteien in der Regel durch privaten Vergleich, Justiz und Gewalt so lange, bis einer der Kontrahenten aufgibt. Das trifft auf Polen-Litauen wie auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation des 16. Jahrhunderts in gleicher Weise zu, wie das Beispiel des Verhaltens Philipps des Großmütigen von Hessen gegenüber den Sprüchen von Reichskammergericht und Reichshofrat beweist (I. Auerbach: Macht und Glauben. Grundprinzipien der Außenpolitik Philipps des Großmütigen am Beispiel Ostmitteleuropas bis zum Frieden von Kaaden, in: I. Auerbach, (Hrsg.) Reformation und Landesherrschaft. Marburg 2005, S. 233 ff. = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 24). Kurbskij war nicht unverträglich. Er verhielt sich nur systemkonform.

Zu überdenken wäre wohl auch die These (S. 39), die adligen Diener der Moskauer Großen hätten einen Treueid auf den Großfürsten abgelegt. Die persönlichen Treueverpflichtungen jedes Einzelnen dem Herrscher gegenüber hätten das von Kurbskij als unsittlich gerügte Abschwören der Opričniki von allen moralischen Bindungen und Verpflichtungen gegenüber Freunden und Verwandten überflüssig gemacht (Vgl. Novyj Margarit. Historisch-kritische Ausgabe auf der Grundlage der Wolfenbütteler Handschrift. Hrsg. von Inge Auerbach. Band 1. Gießen 1982, f. 2; G. Z. Kuncevič: Istorija o kazanskom carstvě ili Kazanskij lětopisec. St. Petersburg 1905, Sp. 322 ff, John L. I. Fennell: A. M. Kurbskys History of Ivan IV. Cambridge 1965, S. 248 ff). Weshalb, wenn die moskowitische Gesellschaft nicht in für Außenstehende, auch den Herrscher, fast undurchdringliche Klientelen gegliedert gewesen wäre, hätte Ivan IV. seine Feinde „vserodno“ vertilgen müssen? Wie bei den Türken, galt nur der Sklave als zuverlässiger Diener. Und Kurbskijs Klientel in Litauen beweist, dass seine „Deti bojarskie“ zwar im litauischen Adel als Standesgenossen Anerkennung fanden, dennoch ihr Status als „cholop“, als Privateigentum ihres Herren, unbestritten blieb (z. B. Esif Pjatyj Torokanov Kalinovskij, vgl. N. D. Ivanišev: Izslědovanija po istorii jugozapadnago kraja, Bd. 2, S. 156 ff). Kurbskij konnte völlig legal über sie verfügen, wie er wollte. Anders war dies bei seinen litauischen adligen Hintersassen. Deren Rechte schützten Privilegien oder das Statut (S. 234). Filjuškin hätte über diese juristischen Winkelzüge der litauischen Rechtsprechung seinen Lesern in Russland auch einen Einblick in das patrimoniale Herrschaftssystem des moskowitischen Russland zur Zeit Ivans IV. vermitteln können (vgl. S. 241, wo dies völlig fehlt). Auch hier hatte sich Kurbskij systemkonform verhalten, allerdings in der Moskauer Tradition.

Das Buch beginnt mit dem üblicherweise für alle Autoren besonders ärgerlichen Fehler auf der Titelseite. Kurbskijs Unterschrift stammt nicht aus der Litauischen Metrik, Amtsbüchern, bestehend aus Abschriften, sondern vom Original seines Testaments in der Handschriftenabteilung der Bibliothek der Litauischen Akademie der Wissenschaften, Vilnius. Filjuškin hat uns trotz dieser notwendigen Ergänzungen ein gut lesbares, interessantes neues Buch über Kurbskij geschenkt, an dem man künftig nicht wird vorbeigehen können.

Inge Auerbach, Marburg/Lahn

Zitierweise: Inge Auerbach über: Aleksandr I. Filjuškin: Andrej Kurbskij. Moskva: Molodaja Gvardija, 2008. 299 S., Abb. = Žizn’ zamečatel’nych ljudej, Serija biografii, 1337 = 1137. ISBN: 978-5-235-03138-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Auerbach_Filjuskin_Andrej_Kurbskij_2008.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Osteuropa-Institut Regensburg and Inge Auerbach. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.