Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 275-277

Verfasst von: Jan Arend

 

Michail D. Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera. Ėtnokonfessionalnaja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II. [Russisches Land, fremder Glaube. Die ethnokonfessionelle Politik des Imperiums in Litauen und Weißrussland unter Aleksandr II.] Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2010. 999 S., 4 Ktn. = Historia Rossica. ISBN: 978-5-86793-804-8.

Mit seiner Moskauer Habilitationsschrift zur Religions- und Nationalitätenpolitik im Zarenreich unter Aleksandr II. ist Michail Dolbilov ein beeindruckendes Buch gelungen, das insbesondere durch eine gelungene Verknüpfung von Theorie und Empirie besticht. Den Untersuchungsraum bilden die nordwestlichen Gebiete des Zarenreichs, also die Territorien des heutigen Litauen und Weißrussland, deren Betrachtung aufgrund der Vielzahl und Komplexität der sich dem Zarenreich hier stellenden ethnischen und religiösen Herrschaftsherausforderungen von besonderem Interesse ist. Die Akteure in Dolbilovs Darstellung sind diejenigen Beamten des Zarenstaats, die im Nordwesten als „Gestalter und Vollstrecker imperialer Politik“ (S. 15) auftraten. Dolbilov betont die engen Zusammenhänge von Religions- und Nationalitätenpolitik im Zarenreich und spricht deshalb von „ethnokonfessioneller“ Politik. Diese wird in ihrer Orientierung auf drei Gruppen vergleichend untersucht: Katholiken, Juden und die im Untersuchungszeitraum zur Orthodoxie zählenden ehemaligen Angehörigen der 1839 verbotenen unierten Kirche.

Die zentrale These der Studie ist, dass die Religionspolitik des Zarenreichs durch ein Zusammenspiel zweier Paradigmen geprägt war: Disziplinierung und Diskreditierung. „Disziplinierung“ bedeutete sowohl die Förderung (Privilegierung) einzelner Bekenntnisse als auch die Normierung religiösen Handelns zur Hervorbringung religiöser Untertanentugenden. Dolbilov bezieht sich dabei auf den von Robert Crews vorgeschlagenen Begriff des „Confessional State“. Dieser bezeichnet eine staatliche Praxis der Toleranz und Förderung konfessioneller Unterschiede zur Loyalitätssicherung und zur Bildung einer systematisch geordneten Gesellschaft, in der Untertanengruppen „ihren Platz kennen“. Hinzu kam die aufklärerische Überzeugung, dass „geduldete“ Religiosität, zumindest insofern sie auf Offenbarungsreligionen beruhte, sozial, moralisch und demographisch „nützliche“ Haltungen bei den Untertanen hervorrufen könne. Ein wichtiger Aspekt dieser Disziplinierung war die religiöse Erziehung, die vor allem am Beispiel der staatlichen Förderung jüdischer Bildungsstätten eingehend dargestellt wird. Mit „Diskreditierung“, dem zweiten vom Autor beschriebenen Paradigma ethnokonfessioneller Politik, sind Repression und Ausgrenzung gemeint.

Welches der Paradigmen in einem bestimmten Kontext dominant wurde, hing, so die These des Autors, auch von den Prägungen und Gedankenwelten der Beamten in der Peripherie ab, war also nicht vollständig zentral zu steuern. Dolbilov richtet seinen Blick damit auf eine „Widersprüchlichkeit“ der ethnokonfessionellen Politik im Zarenreich: Die Tendenz zum aggressiven Othering einzelner Konfessionen und Versuche ihrer Förderung und Domestizierung wirkten seit dem 18. Jahrhundert, aber besonders ausgeprägt unter Aleksandr II., auf komplexe Weise zusammen (S. 51).

Ein einleitendes Kapitel ist der Vorgeschichte des Untersuchungszeitraums gewidmet. Am Beispiel der Politik gegenüber der unierten Minderheit in der Regierungszeit Nikolajs I. zeigt Dolbilov hier die „genetische Verwandtschaft“ der religiösen Disziplinierung in Russland mit der josefinischen Religionspolitik im Habsburgerreich (S. 68). Erst nach dem Novemberaufstand rückte man von dieser Konfessionalisierungspolitik ab und begann, auf die „Wiedervereinigung“ (vossoedinenie) der Unierten Kirche mit der Orthodoxie hinzuarbeiten. Die „Wiedervereinigung“ wurde dabei als ein ethnokonfessionelles, also über den Bereich rein religiöser Angelegenheiten hinausweisendes Projekt gedacht: Es ging auch um die Konsolidierung einer religiös geeinten russischen Nationalität (russkaja narodnost).

Auf diese „Suche nach dem Russischen“ (poisk russkosti) im imperialen Nordwesten sowie auf die Wahrnehmung ethnischer Vielfalt durch die Beamten des Zarenstaates geht Dolbilov  ausführlich ein. Als vorherrschende Haltung sieht er bei den imperialen Beamten die Angst vor einer Polonisierung der multiethnischen Bevölkerung der Region. Während in bürokratischen und gelehrten Kreisen bis 1863 die Förderung regionaler ethnischer und sprachlicher Spezifik als Rezept gegen den polnischen Einfluss galt, wandte man sich nach dem Januaraufstand von Experimenten der regionalen Identitätsbildung ab. Nun sah man in allen Abweichungen vom propagierten großrussischen Standard ein Zeichen bedrohlicher Polonisierung. Die tatsächliche Reichweite der Russifizierung sei freilich beschränkt geblieben. Die Voraussetzungen des modernen nation-building (Presse, Mobilität) waren nämlich im nordwestlichen Gebiet nur schwach ausgebildet. Hinzu kam, dass viele Beamte vor Ort die homogenisierende Russifizierungsrhetorik des imperialen Zentrums nicht übernahmen. In ihrer alltäglichen Praxis bot ihnen vielmehr die Vorstellung von der ethnischen Vielfalt und Eigenheit der Region Orientierung, was etwa an ihrem Interesse für die Idee von „Westrussland“ als Kulturraum (M. Kojalovič) ablesbar ist.

Für die zarischen Beamten war das Problem der drohenden Polonisierung unauflöslich mit dem Katholizismus verbunden, der ihnen aufgrund seiner „Strahlkraft“ und „Attraktivität“ als ein ernstzunehmender Konkurrent im Kampf um die Köpfe und insbesondere die Herzen der lokalen Bevölkerung erschien. In diese „Katholikophobie“ mischte sich jedoch widerwillige Bewunderung für die „Techniken der Mobilisierung der Volksmassen, der Produktion kollektiver Emotionen und, schließlich, der Festigung der konfessionellen Identität der Gemeinde“ (S. 296). In der Politik gegenüber dem Katholizismus vermischten sich, so der Autor, nationalistische und josefinische Motive. „Die Beamten mögen aufrichtig geglaubt haben, dass sie es in erster Linie mit einer nationalen, polnischen Bewegung zu tun haben (…), doch die Erfahrung (…) ließ sie auf die mehr oder weniger erinnerlichen und erprobten Ansätze der Reglementierung und Disziplinierung zurückgreifen“ (S. 366). Hier zeigt der Autor also, dass „Diskreditierung“ und „Disziplinierung“ als Paradigmen der ethnokonfessionellen Politik sich nicht nur abwechseln, sondern auch zeitgleich und gleichgerichtet wirken konnten.

Die Kampagne zur Massenkonversion von 18641868 brachte einen Höhepunkt der antikatholischen Maßnahmen. In deren Folge etablierte sich bei den Beamten mit der Angst vor dem Kryptokatholizismus eine neue Spielart der „Katholikophobie“. Auch diese Haltung war durch ein ambivalentes Zusammenspiel josefinischer und nationalistischer Motive geprägt. Einerseits gab es die nicht unberechtigte Sorge, dass sich die Loyalität der Kryptokatholiken zur „polnischen“ Kirche durch die Erfahrung der Repression verstärkt hatte. Andererseits fürchtete man den Kontrollverlust über die Kryptokatholiken, die nicht mehr in ein regulierbares religiöses Gemeindeleben eingebunden waren. Letztlich erkannten die Vertreter des Staates, so die interessante Schlussfolgerung des Autors, dass mit der Konversionskampagne die Politik der Diskreditierung an eine Grenze stieß, die nicht überschritten werden durfte, solange man die Prinzipien des Konfessionsstaates nicht aufgeben wollte. Sowohl Disziplinierung als auch Diskreditierung, so lässt sich daraus schließen, boten aus der Sicht des Imperiums Vor- und Nachteile, und das konkrete Handeln wurde oft schwankend. Es mag darum gegangen sein, auszutesten, wie weit man in eine Richtung gehen konnte, ohne sich den Weg in die andere Richtung zu verbauen.

Durch die Gegenüberstellung des jüdischen und des katholischen Vergleichsfalls macht der Autor deutlich, dass keineswegs zur gleichen Zeit gegenüber unterschiedlichen Gruppen dieselben Strategien angewandt wurden. Diese Ungleichzeitigkeiten erklären sich nicht allein aus der Logik der konfessionellen Politik, sondern müssen, so Dolbilov, im Zusammenhang der ethnischen Problematik gesehen werden. Während man sich im Falle der weißrussischsprachigen Katholiken, ihre Bekehrung vorausgesetzt, eine Aufnahme in die Gemeinschaft der Großrussen vorstellen konnte, sah man die kulturelle Fremdheit der Juden als unüberwindbar an. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Assimilierbarkeit verschiedener Gruppen legten also unterschiedliche Strategien und „Dosierungen“ konfessioneller Duldung bzw. Diskreditierung nahe.

Dolbilov lässt seine Argumentation in die Kritik einer neueren Deutung imperialer Religionspolitik durch Andreas Kappeler münden, der durch einen Vergleich mit den Verhältnissen im Osmanischen Reich zur Diagnose einer partiellen „Milletisierung“ des Zarenreichs gelangte. „Milletisierung“ impliziere, so Dolbilov, die Absenz eines aktiven staatlichen Interventionismus in die geistlich-spirituelle Sphäre. Der von Dolbilov vorgeschlagene Alternativbegriff der Disziplinierung hingegen trage auch den aktiven Eingriffen in die religiöse Praxis der Untertanen Rechnung. „(I)m Russischen Reich war der Interventionismus (…) die Kehrseite der religiösen Toleranz. Das Eine existierte nicht ohne das Andere (…) (S. 749).“

Insgesamt überzeugt die Untersuchung durch ihre argumentative Stringenz und einen begrifflichen Apparat, der den beschriebenen Phänomenen  adäquat ist. Bei aller Detailtreue und Quellennähe bleibt der Bezug zu den hier skizzierten Leitgedanken immer erkennbar. Trotz ihres monumentalen Umfangs ist die Studie deshalb zugänglich und leserfreundlich.

Jan Arend, München

Zitierweise: Jan Arend über: Michail D. Dolbilov Russkij kraj, čužaja vera. Ėtnokonfessional'naja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II. [Russisches Land, fremder Glaube. Die ethnokonfessionelle Politik des Imperiums in Litauen und Weißrussland unter Aleksandr II.] Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2010. = Historia Rossica. ISBN: 978-5-86793-804-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Arend_Dolbilov_Russkij_kraj.html (Datum des Seitenbesuchs)

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