Susanne Ramm-Weber Mit der Sichel in der Hand. Mythos und Weiblichkeit in der sowjetischen Kunst der dreißiger Jahre. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006. VII, 233 S., 96 s/w-, 18 Farbabb.

Im Mittelpunkt dieser Studie stehen strahlende Mütter mit Kindern auf dem Arm, rundliche Bäuerinnen auf den Kolchosfeldern, Stoßarbeiterinnen in der Industrie, zierliche Intellektuelle bei Lese- und Schreibarbeit – Mythen bzw. Imaginationen der Weiblichkeit und ihrer Rollen in der stalinistischen Sowjetunion der Dreißigerjahre. Die Verfasserin will diese anhand von Bildern, Skulpturen, Fotografien und Plakaten exemplarisch rekonstruieren. Die visuellen Formen des Weiblichkeitsdiskurses werden dabei synchron aus den theoretisch-methodischen Positionen der Gender Studies, im Spannungsverhältnis zwischen weiblicher Selbst- und männlicher Fremdwahrnehmung, beschrieben. In einem weiteren Schritt werden sie im Hinblick auf politik- und sozialgeschichtliche Fragestellungen in Bezug gesetzt zur offiziellen Frauenpolitik, zu ihren Leitbildern und Rollenentwürfen sowie zur „Alltagsrealität“ der Frauen in der Sowjetunion der Dreißigerjahre. Anschließend wird die Differenz ihrer diskursiven Formen zu traditionellen russischen Imaginationen des Weiblichen aus diachroner Perspektive veranschaulicht.

Nach der Einleitung (Kapitel 1) erläutert die Verfasserin in drei theoretisch-methodischen Kapiteln (Kapitel 2, 3 und 4) die Bezüge zwischen dem Sozialistischen Realismus und den Geschichtsmythen der Stalinzeit und setzt sich mit Jungs und Neumanns Lehre vom Mutterarchetypus aus­einander. In einem weiteren Schritt beschreibt sie die neuen Imaginationen der Weiblichkeit in der Kunst der Stalinzeit als Bestandteil von deren politischer Mythologie (Kapitel 6 und 8). Diese Imaginationen knüpfen (so ist dem Kapitel 5 zu entnehmen) figurativ und semantisch an die archaischen, aus der Volksmythologie und der Religion stammenden Symbolfiguren wie „Mutter ‚feuchte Erde‘“, „Maria, die Gottesgebärerin“, „Sophia, die Weisheit Gottes“ an (Kapitel 5). Obwohl die neuen Weiblichkeitsmythen gleichzeitig Elemente der alltäglichen „Lebenswelt“ der Frauen aufnehmen, erweisen sie sich als „Kehrseite der erschreckenden Realität von GULag und vielen Millionen von Toten“, somit als „falsches Bewußtsein“. Ihre Entstehung, vor allem die Betonung des „mütterlichen Prinzips“ und der „Mütterlichkeit“ als Funktion, sieht die Verfasserin einerseits im Zusammenhang mit der Formulierung der sozialistisch-realistischen Forderung der „Volkstümlichkeit“ (narodnost’), die – durch die sowjetische Kunstkritik artikuliert (Ka­pitel 7) – eine bewusste Orientierung der Kunst an „Märchen und Mythen des Altertums“ verlangte. Andererseits handelt es sich für die Verfasserin dabei um den Versuch, eine „Kontinuität“ zwischen der Tradition und der stalinistischen Gegenwart zu erzeugen, den Versuch, neue Weiblichkeitsentwürfe im „Volk“, in der heidnisch geprägten Volkskultur und im orthodoxen Christentum mit ihren Weiblichkeitsmythen und konservativen weiblichen Rollenentwürfen zu verankern. Darüber hinaus hatten diese Entwürfe als „Ersatz“ für den „verblaßten Mythos der Revolution“ ebenso zu dienen wie als psychologische „Kompensation“ für den tristen All­tag und die Angst vor der „ungewissen“ Zukunft. Darin sei eine Parallele zum ethisch und ästhetisch vollkommen Neuen Menschen zu sehen, dem planbaren und erreichbaren Ziel der innerweltlichen Geschichte im Herrschaftsdiskurs des Stalinismus. Dieses Ziel der Schaffung eines Neuen Menschen „beerbte“ nicht nur (auch als „säkulare Religion“) entsprechende Konzeptionen der Jahrhundertwende, sondern auch einen allgemein als „christlich“ zu fassenden Diskurs  und „formte“ beides „um“, wobei die christliche Teleologie durch den diesseitsorientierten, rationalistischen Fortschrittsglauben ersetzt wurde.

Bereits die Begriffe, die in dieser Studie verwendet werden, und die methodische Herangehensweise werfen Fragen auf. Das gilt schon für den zentralen Begriff, nämlich den des „Mythos“. Er wird zunächst im Sinne der „Volksmythologie“, dann entsprechend der Auffassung von Cassirer und Barthes, schließlich auch als „falsches Bewußtsein“ bzw. als „schöner Schein“ definiert. Wie stellt sich jedoch der Unterschied zwischen „Mythos“ und „Realität“ aus der Rezeptionsperspektive der Zeitgenossen dar? Wurde er von ihnen wahrgenommen und reflektiert oder waren die Übergänge hier eher fließend? Im Schlussteil der Studie, als ihre Ergebnisse bereits feststehen, wird der Begriff des „Mythos“ noch einmal im Sinne von Boehm korrigiert. Dabei entsteht auch der Eindruck, dass die Verfasserin vor allem die sozialgeschichtlichen Implikationen des Begriffes „Lebenswelt“ in Betracht zieht, während seine kulturgeschichtlichen Implikationen („Lebenswelt“ als Vorstellung bzw. diskursive Konstruktion, als Rollen­entwürfe und Rechtsakte) nur am Rande Beachtung finden. Das Verhältnis zwischen „Kunst“ und „Lebenswelt“ bzw. „Mythos“ und „Lebenswelt“, zwischen „Kultur“ und „Wirklichkeit“, wird offensichtlich anhand des herkömmlichen Mimesis- und Widerspiegelungsmodells beschrieben. Ersatzweise wird an manchen Stellen auf andere Begriffe, wie beispielsweise den der „Korrespondenz (zwischen ‚Imagination‘ und ‚Lebenswelt‘)“ zurückgegriffen.

Auch wird in der Studie unzureichend thematisiert, welche Bedeutung der Wandel des Selbstverständnisses des stalinistischen Staates und die „konservative Wende“ der Dreißigerjahre für die Bestätigung und Wiederbelebung der konservativen Frauenbilder und Rollenentwürfe in Politik, Gesellschaft und Kultur hatte ebenso wie für die figurative Aneignung und Neuinterpretation der traditionellen visuellen Metaphern und Symbole des Weiblichen, etwa die „Mutter ‚feuchte Erde‘“ und „Maria, die Gottesgebärerin“. Sonst wäre deutlicher geworden, dass die Imaginationen des Weiblichen als Bestandteil der politischen Mythologie eigentlich auch eine weitere Dimension des Stalinismus als aktualisierte „Tradition“ begreiflich machen.

Bedenken weckt auch der Versuch der Verfasserin, einen ikonographischen, inhaltlichen und funktionalen Bezug zwischen der Sophia-Lehre des russischen Fin de siècle, speziell den Konzepten von Vladimir Solov’ev und Sergej Bulgakov, und den Weiblichkeitsimaginationen der Stalin-Zeit herzustellen. Die Studie ist bereits in der Definition der „sophiologischen“ Züge der stalinistischen Weiblichkeitsimaginationen inkonsequent. In die Kunst der Dreißigerjahre geht Sophia, folgt man der Verfasserin, in erster Linie als Sinnbild idealisierter Werte wie „Weisheit“ und „Schönheit“ ein; sie wird mit „schönen Künsten“, „Wissen“, „Bildung“, „Arbeit“ und „Gesellschaft“ in Verbindung gebracht. An anderer Stelle der Studie wird jedoch vermerkt, in der russischen Tradition sei „Sophia, die Weisheit Gottes“, wie „Mutter ‚feuchte Erde‘“ und „Maria, die Gottesgebärerin“, ein Sinnbild der „Fruchtbarkeit“. Weitere Vorbehalte gegen das Erklärungspotential der Sophia-Lehre für das Verständnis des stalinistischen Weiblichkeitsentwurfs ergeben sich daraus, dass die ikonographischen Zeichen der „Sophia“ und des Weiblichen im Sozialistischen Realismus nicht identisch sind. Deshalb bleiben erhebliche Zweifel, dass der Sowjetbürger die angeblich sophianischen Züge der „Neuen Frau“ erkannte, dass die Figur durch die ihr unterstellten Kontinuitäten „geschichtsmächtig“ wurde. Das gilt erst recht, wenn man sich den Umstand vor Augen führt, dass die russische Sophiologie – was die Verfasserin selbst zugibt – erst in der sogenannten russischen Religionsphilosophie der letzten Jahrhundertwende konzeptionell ausgearbeitet und verbreitet wurde. In der russisch-orthodoxen Kirche war sie – vor allem in ihrer Interpretation durch Sergej Bulgakov – umstritten, ja sie wurde sogar abgelehnt. Dem einfachen Orthodoxen, der sich den Glauben eher über den Ritus und weniger über dogmatische Kenntnisse aneignete, war sie vermutlich wenig zugänglich. Und last, but not least: Für diesen Gläubigen gehörten Christentum und Kommunismus zu Wissens- und Weltdeutungssystemen nicht nur unterschiedlicher, sondern gar entgegengesetzter Ordnung, waren weder ihre „Heilsversprechen“ noch die Sophia der Ikone und die vermeintlich „sophianischen“ Frauengestalten der sozialistisch-realistischen Kunst inhaltlich und funktional gegeneinander austauschbar.

Dennoch zeigt die Studie am exemplarischen Ausschnitt des kulturellen Umgangs mit Frauen und dem Weiblichen eine weitere Dimension des gesellschaftlich Imaginativen in der Sowjet­union der Dreißigerjahre und ist damit für das Verständnis der Gesellschaft im Stalinismus durchaus von Wert.

Lilia Antipow, Erlangen/Nürnberg

Zitierweise: Lilia Antipow über: Susanne Ramm-Weber Mit der Sichel in der Hand. Mythos und Weiblichkeit in der sowjetischen Kunst der dreißiger Jahre. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006. ISBN: 978-3-412-36305-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 451-453: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Antipow_Ramm-Weber_Mit_der_Sichel.html (Datum des Seitenbesuchs)